Mothers in mind oder die Frau des aufsteigenden Funkenflugs

Was verbindet man mit Mutterschaft? Zwischen super moms und Rabenmüttern stellt sich augenblicklich eine Bilderflut ein, die von Erinnerungen, Wünschen und Glücksgefühlen erzählt oder auch Erwartungen, Anforderungen, Überforderungen und Ängste triggern kann. Zwischen Idealvorstellung und Realität verläuft wie immer der ganz normale Wahnsinn des Alltags. Wie hat sich das Bild und die Rolle von Müttern im Lauf der Zeit verändert? Mit der Überhöhung der Mutterschaft bis ins 20. Jahrhundert hinein ging vielfach die Reduktion von Frauen auf das Geschlechtlich-Biologische einher. Erst mit den Karrieremöglichkeiten für Frauen entstanden Alternativen zur Mutterrolle. Damit verbunden waren gesellschaftliche Prozesse, wie die Geschlechtergleichstellung, die mit der Infragestellung des traditionellen Familienbildes und konservativer Moralvorstellungen hand-in-hand ging. Obschon Gleichstellungsprozesse längst nicht abgeschlossen sind,
hat sich das Bild und die Realität der Mutterrolle in Folge feministischer Kämpfe massiv verändert. Emanzipative Prozesse und Selbstbestimmung haben gesellschaftliche Strukturen rund um die Mutterschaft, die es mit der Arbeitsrealität der Frauen zu vereinen galt, modifiziert. Von der Erfindung der Antibabypille und der Einführung der legalisierten Abtreibung bis hin zu heutigen Rollenkonzepten queerer Familienstrukturen und aktuellen biotechnologischen Möglichkeiten hat sich das Muttersein zwar von biologischen Zuschreibungen und Zwängen befreien können, dennoch unterliegt die Mutterrolle bestimmten sozialen Erwartungen und Normen. Der soziale Kontext, die Situation als alleinerziehende Mutter beispielsweise, bestimmt nach wie vor das Belastungspotenzial zwischen Muttersein und Karriere, dem die Frauen in der Überlagerung von Reproduktions- und Produktionsarbeit ausgesetzt sind. 

In den letzten Jahren veränderte sich das Bild von Mutterschaft zunehmend in dem Sinne, dass Mutterschaft weniger an die biologische Funktion des Gebärens gebunden ist, – also nicht mehr nur der biologische Ursprung des Lebens im Zentrum steht, – sondern dass geschlechterübergreifend neue Fürsorge-Konstellationen eingeführt wurden. Wenn soziale und biologische Mutterschaft voneinander unabhängig gedacht werden, eröffnen sich neue Formen der Eltern- und Mutterschaft wie Patchworkfamilien, Adoption, queere und gleichgeschlechtliche Fürsorge-Modelle, co-parenting, etc. Damit rückt die Frage nach einem universellen Stellenwert von Fürsorge als gesellschaftliches Modell in den Vordergrund. Fürsorge, Pflege, Erziehung und soziale Verantwortung wurden über
Jahrhunderte hinweg als ausschließlich weiblicher Handlungsbereich gesehen, begründet als ein biologischer, natürlicher Prozess, der somit nicht als eine zu bezahlende Arbeit galt. Karl Marx wies mit dem Begriff der Reproduktionsarbeit darauf hin, dass diese Tätigkeiten zu den gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten zählen, d.h. Arbeit sind. Fürsorge und Pflege hatten gerade auch innerhalb kapitalistischer Verwertungslogiken – solange sie nicht unternehmerisch organisiert waren – keinen realen Stellenwert. Spätestens mit der Erderwärmung und den katastrophalen Auswirkungen kapitalistischer Systeme auf die Umwelt werden diese auf Ausbeutung, Verwertung und Optimierungslogiken aufbauenden Mechanismen infrage gestellt. Fürsorge als gesellschaftliches Modell rückt zunehmend ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die Frage, wie wir mit unserer Umwelt, Mitmenschen und anderen Lebewesen umgehen. Als geschlechter- und altersübergreifendes Handlungsprinzip steht Fürsorge für ein Modell, das statt Profit und Selbstbezogenheit, Beziehungen und Leben in den Vordergrund rückt, bzw. regenerierend auf Umwelt und Gesellschaft wirken kann.

Wodurch zeichnet sich mütterliche Fürsorge aus, welche Handlungsweisen könnten auf eine allgemeine soziale Ebene übertragen werden? Die Sorge um das physische und psychische Wohl der Nachkommen, die soziale und emotionale Verantwortung für die Familienmitglieder, die Organisation des Alltags, die Sicherung von Zukunftschancen durch Bildung und Erziehung, Beziehungsarbeit als gemeinschaftsbildendes Instrument, Aufteilung der Aufgaben, das gemeinsame Wachsen und gemeinsame Machen etc. – all das wären Möglichkeiten, um Gesellschaft fürsorglicher zu gestalten. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass nicht nur das eigene Selbst im Handlungsfokus steht, sondern das Selbst als Teil eines Ganzen gesehen wird. Bei der Gestaltung des gemeinsamen Seins werden enorme Kräfte frei durch die wir Anteil am Leben anderer nehmen und unser eigenes Leben teilen. Gerade durch die emotionale Nähe können jedoch Konflikte entstehen, die sich oftmals aus der Verteilung von Fürsorge ergeben können, vor allem wenn sie fehlt, dann aber auch wenn sie dominierende und vereinnahmende Effekte hat oder das eigene Selbst überfordert. Zwischen Produktions- und Reproduktionsarbeit ist die Balance von Karriere, Fürsorge, und Selbst nicht leicht aufrecht zu halten. Das erfordert wiederum die Aufteilung von Fürsorgearbeit, ihre gesellschaftliche Aufwertung sowie die Neukonzeption gesellschaftlicher Wertsetzungen und Lebensinhalte. Vor dem Hintergrund des Klimawandels und den damit immer dringlicher werdenden Bewusstseinsänderungen fragt Thomas Metzinger, ob es etwas geben könnte, das noch
schöner, noch interessanter ist, als beruflich erfolgreich oder reich zu werden.(1) Wenn wir nicht mehr von ökonomischen und narzisstischen Beweggründen getrieben sind, „könnten uns neue Formen der Beschäftigung mit dem eigenen Geist, bestimmte Formen der Meditation, dabei helfen, einfacher zu leben – und glücklicher zu sein“(2), so Metzinger. Diese Bewusstseinsänderungen im Sinne einer „säkularen Spiritualität“ (Metzinger) könnten dazu beitragen neue fürsorgliche Formen des Zusammenlebens zu imaginieren und realisieren.
Donna Haraways(3) Modell der artenübergreifenden Verwandtschaft (kinship) und symbiotischen Beziehungen zwischen menschlichen und nicht menschlichen Lebewesen betont wiederum das gemeinsame Wachsen und Machen als sozialen Prozess, der es ermöglichen soll, sich in andere Spezies einzufühlen, um das Überleben der Arten zu sichern. Interessant ist im Symbiose-Kontext ein Verweis auf Jacques Lacans(4) Spiegelstadium, wo das Kleinkind sich zum ersten Mal vor dem Spiegel als Ganzes sieht und erkennt. Das ist der Beginn der Autonomie des Kindes, das sich nun mit einem Bewusstsein seiner Selbst, von der symbiotischen Beziehung zur Mutter zu lösen beginnt. Damit stellt sich die Frage, welche anderen Formen der Symbiose, jenseits der mütterlichen Abhängigkeitsbeziehung, brauchen wir? Wie viel Autonomie ist nötig und wie können wir verhindern, dass sich Autonomie und Symbiose im Weg stehen? Tatsächlich befinden wir uns immer in Abhängigkeitsverhältnissen von und zu anderen Personen, Lebewesen und der Umwelt. Wir sind räumlich, zeitlich und sozial situiert, abhängig von Beziehungen, Lebensumständen, gesellschaftlichen und ökologischen Prozessen. Wenn wir uns dessen bewusst sind, kann sich das Gefühl einstellen, Teil eines Ganzen zu sein, das helfen kann, Sympathien zu entwickeln und die Angst vor der Fremdheit des Anderen zu überwinden. Über autonome Handlungsspielräume wiederum können wir Einfluss auf Beziehungen und Abhängigkeiten nehmen und diese gestalten.
Was kann ich von meinen Kindern lernen, was möchte ich an die nächste Generation weitergeben? Wo ist die Grenze zwischen Fürsorge und Dominanz? Angesichts von  Erderwärmung und gesellschaftlicher Kälte brauchen wir Modelle, die Fürsorge nicht mehr nur auf den Menschen beziehen, sondern auf alle Lebewesen und den Planeten als 

Gesamtlebewesen (Holobiont)(5) verstehen. Ökofeministische Blickwinkel auf die Welt könnten dabei helfen gegenwärtige Zerstörungsmechanismen zu überwinden, um Fürsorge endgültig als Handlungsmodell aller Geschlechter zu verankern.
Die Frau des aufsteigenden Funkenflugs (Apemerukoyan-Mat Unamerukoyan-Mat) oder kurz Abe Kamui ist bei den Ainu, (6) den indigenen Ureinwohnern Nord-Japans die Göttin des Feuers, die für soziale Wärme zuständig ist. „Sie hat ihren Palast unter dem häuslichen Herd, spendet Wärme, richtet innerhäusliche Angelegenheiten, stiftet Frieden unter den Menschen, stellt die Verbindung zu den Geistern und anderen Gottheiten her und bringt Gebete zu Himmelsgott Pase Kamui. Sie lebt in den Herzen.“(7) In der Spiritualität der Ainu sind das Herz und die Feuerstelle die Orte, an denen die Seelen der Verstorbenen leben. Somit darf weder das Feuer in einem Kamin noch das Feuer im Herzen entweiht oder gar gelöscht werden.(8) Die Frau des aufsteigenden Funkenflugs steht somit für soziale Nähe, friedvolle Beziehungen der Menschen untereinander und für Verbindungen zwischen den Menschen, Toten und den Göttern. Sie vermittelt zwischen Realität und Spiritualität, sie ist der Funke der überspringt, wenn fürsorgliche Beziehungen entstehen.

Sabine Winkler

(1) Thomas Metzinger, Bewusstseinskultur – Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise, Interview mit Theresa Schouwink zur Bucherscheinung, „Der menschliche Geist scheint in der Klimakatastrophe seinen Meister gefunden zu haben“, veröffentlicht am 12. Januar 2023 im philosophie Magazin, www.philomag.de/artikel/thomas-metzinger-der-menschliche-geist-scheint-der-klimakatastrophe-seinen-meiste
(2) ebda
(3) Donna Haraway, Staying with the Trouble – Making Kin in the Chthulucene, Duke Universtiy Press, 2016
(4) Jacques Lacan, französischer Psychiater und Psychoanalytiker, 1901–1981
(5) Zur Definition des Begriffs Holobiont: Zentrum für Kunst Karlsruhe, Glossolalia, zkm.de/de/holobiont » ›Holobiont‹ ist ein wissenschaftlicher Begriff, der zum Ausdruck bringt, dass alle Lebewesen durch symbiotische Beziehungen existieren. Außerdem bezieht sich ›Holobiont‹ auf eine Gruppe verschiedener, voneinander abhängiger ökologischer Organismen, die als Ganzes zusammenleben. Die Eigenschaften eines Holobionten sind instabil; es gibt jedoch eine unaufhörliche Aushandlung, eine Art transformativen Dialog zwischen allen Organismen innerhalb des Holobionten (Mikroben, Bakterien, Viren, Sporen usw.). Alle Arten haben eine miteinander verwobene Abstammungslinie des Lebens und Überlebens, einen Kontext, in dem sie ›miteinander werden‹ «.(6) Ainu oder Utari. Ainu bedeutet in der Ainu-Sprache „Mensch“, Utari „Kamerad“. Vgl. Abe Kamui – Japanische Göttin des Feuers, der Feuerstelle, des Herdfeuers,https://artedea.net/abe-kamui-2/ (7) Abe Kamui – Japanische Göttin des Feuers, der Feuerstelle, des Herdfeuers, artedea.net/abe-kamui-2/
(8) Vgl. Abe Kamui – Japanische Göttin des Feuers, der Feuerstelle, des Herdfeuers, artedea.net/abe-kamui-2/

 

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