maman mamma mame emämaa em umm ana mom mae s’mami haha....

„Immer mehr fühlte ich die Augen, die mich anschauten, die Stimme, die zu mir sprach, und die Arme, die alles milderten. Ich erinnere mich, daß ich das „
Mam“ nannte.“ (A. Stifter, 1866)

Das ‚Stifter-Baby’, noch neu in der Welt, war eine Weile beruhigt. Ob diese „Mam“ seine Kinderfrau, leibliche Mutter oder gar ein Mann war? Hauptsache: ‚mildernde Umstände’, anders gesagt, Mütterlichkeit. Denn einmal da, gibt es kein Zurück mehr in die Gebärmutter, den alles umhüllenden Schutzraum, für den wir vielleicht lebenslang Ersatzformen/Intimsphären suchen.  
Und nun noch eine Stiftersche Erinnerungshilfe für unsere rätselhafte vorgeburtliche Zeit im Mutterleib: 
„Weit zurück in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich. (...) es war Glanz, es war Gewühl, es war unten. Dies muß sehr früh gewesen sein, denn mir ist, als liege eine hohe, weite Finsternis des Nichts um das Ding herum. - Dann war etwas anderes, (...) es waren Klänge. (...) Dann schwamm ich in etwas Fächelndem, ich schwamm hin und wieder (...) dann wurde ich wie trunken (...)“ 
So Stifter, österreichischer Schriftsteller des 19.Jh., in seinem späten auto- biographischen Fragment von 1866, ein dichterisch tastender, sublimer Versuch einer Uterus-Imagination, die eigenartig intim wirkt. 
Eine Universalie: 
„Alles menschliche Leben auf diesem Planeten wird von der Frau geboren“, so Adrienne Rich 1976. „Die einzig einigende, von allen Frauen und Männern geteilte, unbestreitbare Erfahrung besteht aus der monatelangen Zeit, die wir im Innern eines Frauenkörpers gelebt haben, um uns zu entfalten.“
Ohne ‚Mamas’ und Mädchen, die besonders im globalen Süden oft auch bereits Mütter sind, gäbe es zwar den Fortbestand unseres Planeten, aber nicht diese (un)menschliche Welt darauf. Laut Berechnungen von Oxfam, einer internationalen Not- und Entwicklungshilfeorganisation, erbringen weltweit Frauen/Mädchen jedes Jahr Pflege- und Sorgeleistungen, die das Vermögen der Superreichen bei Weitem übersteigen, würde man sie denn bezahlen  -  sogar nur mit einem Mindestlohn! Diese Leistungen scheinen nicht einmal in Wirtschaftsstatistiken auf. Hausarbeit, Pflege- und Fürsorgetätigkeiten in der Familie und anderen Gemeinschaftsformen werden offensichtlich als unproduktiv betrachtet. Auch arbeitenden Müttern, oft in Teilzeit, droht das Armutsrisiko; Der Gender-Pay-Gap und besond- ers der Motherhood- Pay-Gap. Lautete der Imperativ ‚Mehr Geld für das Gemeinwohl!“ müsste gerade weibliche Care-Arbeit super bezahlt sein. Die Arbeit liegt leider meist unter unserer Wahrnehmungsschwelle.
Die Meilensteine der Erkenntnisse im 20.Jh., die Emanzipationskonzepte zu Frauen sowie ihre Mutterrolle betreffend, liegen vor: Simone de Beauvoir  sah die weibliche Gebundenheit an die Reproduktionseigenschaften als Grund ihrer gesellschaftlichen Unterdrückung, wörtlich: „der Versklavung der Frau“, und die gelieferten Fakten zur Lebensrealität von Müttern belegten ihren Befund. 1949 erschien ihr sozialgeschichtlich-philosophisches Werk „Le Deuzième Sexe“ (das zweite, also nachgeordnete Geschlecht!),1951 auf Deutsch „Das andere Geschlecht. Die Fakten und die Mythen.“. Brutal gesagt lautet eine Botschaft, die bis heute Geltung hat: Kinder sind ein ‚Gleichberechtrechtigungskiller’.  (Beauvoir blieb konsequenterweise kinderlos, adoptierte aber eine jüngere Freundin, hatte somit eine Art Tochter.) Retrospektiv gesehen begründete sie die Gender Studies, denn der vielzitierte Schlüsselsatz lautet: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ Ließe sich auch sagen, man wird nicht als Mama geboren, man wird dazu gemacht? 
25 Jahre später publizierte die schon erwähnte A. Rich, feministische Dich- terin und dreifache Mutter, „Of Woman Born: Motherhood as Experience and Institution“. Darin steht, Mutterschaft  habe eine „Geschichte“, eine „Ideologie“, denn sie würde als selbstverständliche, natürliche „Institution“ gleichsam ohne Gebäude gesehen, dafür sei sie aber omnipräsent in familiären Strukturen /Praktiken  -  und vor allem in den Köpfen, die weiterhin tradierte Mutterbilder reproduzierten.  -  Krasse Beispiele für die ideologische Instrumentalisierung der Mutterschaft können wir in der Nazi-Zeit finden, wo ein ebenso verherrlichender wie verlogener Mutterkult (Frauen an ihren ‚natürlichen’ Ort, den Herd; Mutterkreuze für fleißige Gebärerinnen) herrschte, oder in China, wo von 1979 bis 2015 eine rigoros kontrollierte Ein-Kind-Politik verfolgt wurde.

Mutterschaft und die daraus folgende Mütterlichkeit sind kein fest assoziiertes Gedankenpaar, wie wir heute glauben mögen, und schon gar keine gelebte Praxis im Rückblick auf andere Jahrhunderte. In „Mutterliebe“ (L’Amour en plus, 1980) demaskiert Elisabeth Badinter diesen ‚natürlichen’ Instinkt mittels reichhaltiger historischer Quellen als Mythos, denn je nach gesellschaftlichem Bedarf und politischen Notwendigkeiten in einem System werden kulturelle Werte (um)modelliert oder erfunden/konstruiert. Reiche Frauen kümmerten sich nicht um ihre Kinder, sie kamen sofort zu Ammen (Stillen) und Erziehern... Kinder wurden auch einfach an kinderlose Verwandte weitergegeben  Eine heute unvorstellbare Gleichgültigkeit, ja Grausamkeit gegenüber Kindern war die Regel. Generell definierte sich der Wert des Kindes über dessen Nutzen für die Eltern: Als Nachfolger/Erbe oder schlichtweg als Arbeitskraft. Erst mit J.J. Rousseaus Roman „Emil Oder die Erziehung“(1762) rückte ein naturgemäßes, aber sozial ausgerichtetes Heranwachsen ins Zentrum, die Kindheit wurde eine schützenswerte Phase und die Mutterschaft verkörpert sich nun im Ideal von einer big Mama, dem Archetypus der spendenden Großen Mutter, die abseits von der Öffentlichkeit -  dem Mann scheinbar! ergeben  -  im Familiengehäuse wirkt. Als Erzeugerin (Mutterschoß), Ernäherin (Brüste), Hüterin...Dort übte sie gewiss auch eine ‚verdeckte’ Macht aus, jedoch stets um den Preis des gesellschaftlichen Nicht-Seins. Der sehr widersprüchliche  Rousseau hatte einen fulminanten Erfolg/Einfluss, und das Nachwirken seiner Ideen können wir noch heute sehen. (Übrigens hatte der Philosoph mit seiner Freundin fünf Kinder, die alle schon als Säuglinge spurlos in einem staatlichen Waisenhaus verschwanden, denn er musste doch Werke schaffen! Er überließ sie dem ‚Mama Staat’.  Wem wünscht man das? )

Die geschlechtertheoretische Unterscheidung zwischen Mutterschaft und Mütterlichkeit entspricht der von Sex und Gender. Schwangerschaft und Mutterschaft sind NOCH  -  die Reproduktionsmedizin schreitet voran  -  an die biologische Kategorie ‚Frau’ gebunden, aber die Kompetenz ‚Mütterlichkeit’ ist eine geschlechtsunspezische, soziale Eigenschaft und nicht einfach den Müttern zuschreibbar.  Der mütterliche Mann, der Mann als Mama ist inzwischen eine gesellschaftlich anerkannte Figur und keine so seltene Spezies mehr. Und der verpaarte homosexuelle Mann kann soziale Mama sein dank der Möglichkeit, sich eine biologische Mutter „auszuleihen“. Das ethisch umstrittene Thema Leihmütterschaft... Oder er bekommt ein Kind und wird Mama, weil er als frühere Frau und jetziger Mann noch die weiblichen Organe besitzt... 
Die neue Unübersichtlichkeit in der verwirrenden, weil fluiden Geschlechter/Identitätsvielfalt (LGTBQIA+ zählt über 50 Geschlechter) korrespondiert mit den Möglichkeiten der Biotechnologie und der florierenden Reproduktionsindustrie. Die Normen sind in Bewegung geraten, was vielleicht produktiv für eine Neuaufmischung der stets konfliktuösen Familiensituation ist. Denn die familiäre Bühne hat die Besonderheit,   selten nach dem Szenario einer Komödie, die nur gut endet, organisiert zu sein... 
Die mamaeske Alltagsrealität: Die „Schlechtes-Gewissen-Mutter“, die ALLES unter einen Hut bringen will und das Inkommensurable darin sieht: Wer sich als Mutter und als Nicht-Mutter begreift, gerät in ein Dilemma, das mit der Ankunft des Kindes virulent wird. das Rachel Cusk in „A Life’s Work“ (2001, deutsch „Lebenswerk“) beschreibt: „(...) nach dessen Geburt lebt es im Einflussbereich ihres Gewissens weiter. In seiner Gegenwart kann sie nicht sie selbst sein, ebenso wenig in seiner Abwesenheit, und die eigenen Kinder zu verlassen ist ebenso schwierig, wie bei ihnen zu bleiben. Diese Erkenntnis erzeugt das Gefühl, sich heillos in einen Konflikt verstrickt zu haben oder in eine mythische Falle geraten zu sein.“ 
Einmal Mama, immer Mama... hin- und hergerissen zwischen Kind und  lebenswichtigem Beruf. Hilft es da, nur eine maa maa–Mama sein zu wollen, auf deutsch eine ‚So la la-Mama’, eine Durchschnittsmutter?
Eine kleine zeitgeistige Mama-Typologie:
Die Helikopter-Mama: Sie schwirrt und schwebt ständig über den Kids, auch via Instagram und Facebook, spielt Taxi hin zur Schule, in den Musical-Kurs, zum Reitclub, zur Trommel-Gruppe... Eines Tages werden  die Kleinen hoffentlich es schaffen, auszubüchsen.
Die Latte-Macchiato-Mama oder die Schicke Mama: Sie sitzt im kinderfreundlich gestylten Cafe zum Frühstück und sippt an einem Hafermilch-Longdrink oder an einem Sojamilch-Kaffee gemeinsam mit ebensolchen Mamas, der Top-Kinderwagen ist natürlich dabei.
Die Mappi: Mama und Papa in einem, die Alleinerzieherin. Dauergestresst, aber heißgeliebt. Tiefkühl-Pizza und Fertigsuppen... so ein Glück.   
Die Tiger-Mama: In Asien wohl bekannt. Die Kinder müssen von Beginn an 1A werden... Es gibt auch ein Ratgeber-Buch dazu...
Die Kampfmama: Sie stellt sich in jedem Fall mit einem Schutzschild vor das Kind, auch wenn es ganz klar Unfug macht, und geht in den Angriff über bei jeder kleinsten Kritik.
Die Krokodil-Mama: Sie glaubt, dem Kind ALLES zu geben. Erstickend.
Sicher ist nur, dass sie dafür alles von ihm will. Es droht die Verschlingung.
Die GAIA oder die Erdmutter: durch und durch Öko-Freak mit Tendenz zum Landleben. Chaos ist gut, Kinder sollen ruhig dreckig werden, toben, ...alles kreativ und frei. 
Beste-Freundin-Mama: Partnerlook zwischen Ma und Tochter, Kleidertausch üblich. Ma freut sich, wenn sie für die ältere Schwester gehalten wird...  Lieben dieselben Cafés, dieselbe Musik...
Die Rabenmutter: Negatives Image? Nicht mehr. Bekommt Bestätigung, Lob. „Soll doch der Mann....“ 
Die Stiefmama: Die notorisch Böse – ab ins Märchen!. Sie hat ihren Dienst längst quittiert. Siehe Patchworkfamilien und anderen Konstellationen.

Karin Ruprechter-Prenn 

 

 

 

Mothers in mind
oder die Frau des aufsteigenden Funkenflugs

Was verbindet man mit Mutterschaft? Zwischen super moms und Rabenmüttern stellt sich augenblicklich eine Bilderflut ein, die von Erinnerungen, Wünschen und Glücksgefühlen erzählt oder auch Erwartungen, Anforderungen, Überforderungen und Ängste triggern kann. Zwischen Idealvorstellung und Realität verläuft wie immer der ganz normale Wahnsinn des Alltags. Wie hat sich das Bild und die Rolle von Müttern im Lauf der Zeit verändert? Mit der Überhöhung der Mutterschaft bis ins 20. Jahrhundert hinein ging vielfach die Reduktion von Frauen auf das Geschlechtlich-Biologische einher. Erst mit den Karrieremöglichkeiten für Frauen entstanden Alternativen zur Mutterrolle. Damit verbunden waren gesellschaftliche Prozesse, wie die Geschlechtergleichstellung, die mit der Infragestellung des traditionellen Familienbildes und konservativer Moralvorstellungen hand-in-hand ging. Obschon Gleichstellungsprozesse längst nicht abgeschlossen sind, 
hat sich das Bild und die Realität der Mutterrolle in Folge feministischer Kämpfe massiv verändert. Emanzipative Prozesse und Selbstbestimmung haben gesellschaftliche Strukturen rund um die Mutterschaft, die es mit der Arbeitsrealität der Frauen zu vereinen galt, modifiziert. Von der Erfindung der Antibabypille und der Einführung der legalisierten Abtreibung bis hin zu heutigen Rollenkonzepten queerer Familienstrukturen und aktuellen biotechnologischen Möglichkeiten hat sich das Muttersein zwar von biologischen Zuschreibungen und Zwängen befreien können, dennoch unterliegt die Mutterrolle bestimmten sozialen Erwartungen und Normen. Der soziale Kontext, die Situation als alleinerziehende Mutter beispielsweise, bestimmt nach wie vor das Belastungspotenzial zwischen Muttersein und Karriere, dem die Frauen in der Überlagerung von Reproduktions- und Produktionsarbeit ausgesetzt sind.

In den letzten Jahren veränderte sich das Bild von Mutterschaft zunehmend in dem Sinne, dass Mutterschaft weniger an die biologische Funktion des Gebärens gebunden ist, – also nicht mehr nur der biologische Ursprung des Lebens im Zentrum steht, – sondern dass geschlechterübergreifend neue Fürsorge-Konstellationen eingeführt wurden. Wenn soziale und biologische Mutterschaft voneinander unabhängig gedacht werden, eröffnen sich neue Formen der Eltern- und Mutterschaft wie Patchworkfamilien, Adoption, queere und gleichgeschlechtliche Fürsorge-Modelle, co-parenting, etc. Damit rückt die Frage nach einem universellen Stellenwert von Fürsorge als gesellschaftliches Modell in den Vordergrund. Fürsorge, Pflege, Erziehung und soziale Verantwortung wurden über Jahrhunderte hinweg als ausschließlich weiblicher Handlungsbereich gesehen, begründet als ein biologischer, natürlicher Prozess, der somit nicht als eine zu bezahlende Arbeit galt. Karl Marx wies mit dem Begriff der Reproduktionsarbeit darauf hin, dass diese Tätigkeiten zu den gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten zählen, d.h. Arbeit sind. Fürsorge und Pflege hatten gerade auch innerhalb kapitalistischer Verwertungslogiken – solange sie nicht unternehmerisch organisiert waren – keinen realen Stellenwert. Spätestens mit der Erderwärmung und den katastrophalen Auswirkungen kapitalistischer Systeme auf die Umwelt werden diese auf Ausbeutung, Verwertung und Optimierungslogiken aufbauenden Mechanismen infrage gestellt. Fürsorge als gesellschaftliches Modell rückt zunehmend ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die Frage, wie wir mit unserer Umwelt, Mitmenschen und anderen Lebewesen umgehen. Als geschlechter- und altersübergreifendes Handlungsprinzip steht Fürsorge für ein Modell, das statt Profit und Selbstbezogenheit, Beziehungen und Leben in den Vordergrund rückt, bzw. regenerierend auf Umwelt und Gesellschaft wirken kann.

Wodurch zeichnet sich mütterliche Fürsorge aus, welche Handlungsweisen könnten auf eine allgemeine soziale Ebene übertragen werden? Die Sorge um das physische und psychische Wohl der Nachkommen, die soziale und emotionale Verantwortung für die Familienmitglieder, die Organisation des Alltags, die Sicherung von Zukunftschancen durch Bildung und Erziehung, Beziehungsarbeit als gemeinschaftsbildendes Instrument, Aufteilung der Aufgaben, das gemeinsame Wachsen und gemeinsame Machen etc. – all das wären Möglichkeiten, um Gesellschaft fürsorglicher zu gestalten. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass nicht nur das eigene Selbst im Handlungsfokus steht, sondern das Selbst als Teil eines Ganzen gesehen wird. Bei der Gestaltung des gemeinsamen Seins werden enorme Kräfte frei durch die wir Anteil am Leben anderer nehmen und unser eigenes Leben teilen. Gerade durch die emotionale Nähe können jedoch Konflikte entstehen, die sich oftmals aus der Verteilung von Fürsorge ergeben können, vor allem wenn sie fehlt, dann aber auch wenn sie dominierende und vereinnahmende Effekte hat oder das eigene Selbst überfordert. Zwischen Produktions- und Reproduktionsarbeit ist die Balance von Karriere, Fürsorge, und Selbst nicht leicht aufrecht zu halten. Das erfordert wiederum die Aufteilung von Fürsorgearbeit, ihre gesellschaftliche Aufwertung sowie die Neukonzeption gesellschaftlicher Wertsetzungen und Lebensinhalte. Vor dem Hintergrund des Klimawandels und den damit immer dringlicher werdenden Bewusstseinsänderungen fragt Thomas Metzinger, ob es etwas geben könnte, das noch schöner, noch interessanter ist, als beruflich erfolgreich oder reich zu werden. Wenn wir nicht mehr von ökonomischen und narzisstischen Beweggründen getrieben sind, „könnten uns neue Formen der Beschäftigung mit dem eigenen Geist, bestimmte Formen der Meditation, dabei helfen, einfacher zu leben – und glücklicher zu sein“, so Metzinger. Diese Bewusstseinsänderungen im Sinne einer „säkularen Spiritualität“ (Metzinger) könnten dazu beitragen neue fürsorgliche Formen des Zusammenlebens zu imaginieren und realisieren. 
Donna Haraways Modell der artenübergreifenden Verwandtschaft (kinship) und symbiotischen Beziehungen zwischen menschlichen und nicht menschlichen Lebewesen betont wiederum das gemeinsame Wachsen und Machen als sozialen Prozess, der es ermöglichen soll, sich in andere Spezies einzufühlen, um das Überleben der Arten zu sichern. Interessant ist im Symbiose-Kontext ein Verweis auf Jacques Lacans Spiegelstadium, wo das Kleinkind sich zum ersten Mal vor dem Spiegel als Ganzes sieht und erkennt. Das ist der Beginn der Autonomie des Kindes, das sich nun mit einem Bewusstsein seiner Selbst, von der symbiotischen Beziehung zur Mutter zu lösen beginnt. Damit stellt sich die Frage, welche anderen Formen der Symbiose, jenseits der mütterlichen Abhängigkeitsbeziehung, brauchen wir? Wie viel Autonomie ist nötig und wie können wir verhindern, dass sich Autonomie und Symbiose im Weg stehen? Tatsächlich befinden wir uns immer in Abhängigkeitsverhältnissen von und zu anderen Personen, Lebewesen und der Umwelt. Wir sind räumlich, zeitlich und sozial situiert, abhängig von Beziehungen, Lebensumständen, gesellschaftlichen und ökologischen Prozessen. Wenn wir uns dessen bewusst sind, kann sich das Gefühl einstellen, Teil eines Ganzen zu sein, das helfen kann, Sympathien zu entwickeln und die Angst vor der Fremdheit des Anderen zu überwinden. Über autonome Handlungsspielräume wiederum können wir Einfluss auf Beziehungen und Abhängigkeiten nehmen und diese gestalten. 
Was kann ich von meinen Kindern lernen, was möchte ich an die nächste Generation weitergeben? Wo ist die Grenze zwischen Fürsorge und Dominanz? Angesichts von  Erderwärmung und gesellschaftlicher Kälte brauchen wir Modelle, die Fürsorge nicht mehr nur auf den Menschen beziehen, sondern auf alle Lebewesen und den Planeten als Gesamtlebewesen (Holobiont) verstehen. Ökofeministische Blickwinkel auf die Welt könnten dabei helfen gegenwärtige Zerstörungsmechanismen zu überwinden, um Fürsorge endgültig als Handlungsmodell aller Geschlechter zu verankern.
Die Frau des aufsteigenden Funkenflugs (Apemerukoyan-Mat Unamerukoyan-Mat) oder kurz Abe Kamui ist bei den Ainu, den indigenen Ureinwohnern Nord-Japans die Göttin des Feuers, die für soziale Wärme zuständig ist. „Sie hat ihren Palast unter dem häuslichen Herd, spendet Wärme, richtet innerhäusliche Angelegenheiten, stiftet Frieden unter den Menschen, stellt die Verbindung zu den Geistern und anderen Gottheiten her und bringt Gebete zu Himmelsgott Pase Kamui. Sie lebt in den Herzen.“ In der Spiritualität der Ainu sind das Herz und die Feuerstelle die Orte, an denen die Seelen der Verstorbenen leben. Somit darf weder das Feuer in einem Kamin noch das Feuer im Herzen entweiht oder gar gelöscht werden.
Die Frau des aufsteigenden Funkenflugs steht somit für soziale Nähe, friedvolle Beziehungen der Menschen untereinander und für Verbindungen zwischen den Menschen, Toten und den Göttern. Sie vermittelt zwischen Realität und Spiritualität, sie ist der Funke der überspringt, wenn fürsorgliche Beziehungen entstehen.

Sabine Winkler

(1) Thomas Metzinger, Bewusstseinskultur – Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise, Interview mit Theresa Schouwink zur Bucherscheinung, „Der menschliche Geist scheint in der Klimakatastrophe seinen Meister gefunden zu haben“, veröffentlicht am 12. Januar 2023 im philosophie Magazin, www.philomag.de/artikel/thomas-metzinger-der-menschliche-geist-scheint-der-klimakatastrophe-seinen-meiste


(2) ebda.
(3) Donna Haraway, Staying with the Trouble – Making Kin in the Chthulucene, Duke Universtiy Press, 2016
(4) Jacques Lacan, französischer Psychiater und Psychoanalytiker, 1901–1981
(5) Zur Definition des Begriffs Holobiont: Zentrum für Kunst Karlsruhe, Glossolalia, https://zkm.de/de/holobiont » ›Holobiont‹ ist ein wissenschaftlicher Begriff, der zum Ausdruck bringt, dass alle Lebewesen durch symbiotische Beziehungen existieren. Außerdem bezieht sich ›Holobiont‹ auf eine Gruppe verschiedener, voneinander abhängiger ökologischer Organismen, die als Ganzes zusammenleben. Die Eigenschaften eines Holobionten sind instabil; es gibt jedoch eine unaufhörliche Aushandlung, eine Art transformativen Dialog zwischen allen Organismen innerhalb des Holobionten (Mikroben, Bakterien, Viren, Sporen usw.). Alle Arten haben eine miteinander verwobene Abstammungslinie des Lebens und Überlebens, einen Kontext, in dem sie ›miteinander werden‹ «.

(6) Ainu oder Utari. Ainu bedeutet in der Ainu-Sprache „Mensch“, Utari „Kamerad“. Vgl. Abe Kamui – Japanische Göttin des Feuers, der Feuerstelle, des Herdfeuers, artedea.net/abe-kamui-2/


(7) Abe Kamui – Japanische Göttin des Feuers, der Feuerstelle, des Herdfeuers, artedea.net/abe-kamui-2/


(8) Vgl. Abe Kamui – Japanische Göttin des Feuers, der Feuerstelle, des Herdfeuers, artedea.net/abe-kamui-2/

 

mama

concept / en / jp / de