Down To Earth – Ein Schritt nach vorn und ein Blick zurück ...

"Wenn sich zwei Frauen begegnen, kehren sie sich das Gesicht zu, reiben einander die Hände, drehen diese dann um, die Hand!ächen nach oben; dann legen sie sie auf den Kopf der anderen und lassen sie an den Haaren entlang hinabgleiten." Alrette und André Leroi-Gourhan "Eine Reise zu den Ainu – Hokkaido 1938"

Wenn man es eilig hat im Netz – und das hat man oft – aber dennoch einen Artikel schnell über!iegen möchte, scrollt man über diesen hinweg, in der Ho"nung auf eine möglichst große Anzahl von Bildern, die einem den Text innerhalb weniger Sekunden erklären. Unsere Aufmerksamkeitsspanne hat sich laut einer Studie Microsofts von 12 Sekunden im Jahr 2000 auf gerade mal 8 Sekunden in 2013 verringert. Damit wäre unsere Aufmerksamkeitsleistung 1 Sekunde schwächer als die von Goldfischen.

Das war mittlerweile vor 4 Jahren – in heutiger Zeitrechnung schon total veraltet.
Doch wo stehen wir jetzt? Die Masse an Informationen, die Möglichkeiten an Social Media Aktivitäten und die immer stärkere technische Leistung von Smartphones ist nicht weniger geworden. Visuelle Reizüber- !utungen und reißerische Titel auf digitalen Trivial-Medien, die einem mit ihrer suggestiven Clickbait-Sprache zum Draufklicken animieren sollen, ziehen einen immer tiefer in die unendliche Welt der über!üssigen Informationen.
Heutzutage geht man nicht mehr online, sondern muss bewusst o$ine gehen. Sich der digitalen Parallelwelt zu entziehen ist kaum mehr möglich und dennoch gibt es wieder Bestrebungen oder zumindest nostalgische Vorsätze sich dem zuzuwenden, was uns über die erschreckend kurze Zeit allmählich abhanden kommt: die direkte Kommunikation, das analoge face to face Gespräch, Dinge zum Anfassen – am besten aus Naturmaterial und nicht virtuell 3D, weniger visuelle Über!utung dafür mehr Inhalt, etc. Oder eben mehr Text. Zum Glück gibt es Gegenwind.

Ein Beispiel unter einigen: Das unabhängige Schweizer Magazin REPORTAGEN. Seit seiner Gründung 2011 verzichtet das Magazin auf Fotos und unterhält seine Leserinnen und Leser mit klassisch literarischer Textreportage – und das auch noch auf Papier! Wobei hinzugefügt werden muss, dass man es selbstverständlich auch als digitales Abo beziehen kann. "In Zeiten der Print-Krise" ist es dennoch ein nennenswertes Phänomen. Obwohl keine Bilder, höchstens Grafiken oder Illustrationen, aber dafür einige Seiten Text – den man sich mit viel Zeit und Muße aneignen muss, ja für längere Zeit konzentrieren muss – steigern sich kontinuierlich die Abozahlen. Ein Beweis, dass es auch "langsamer" gehen kann, wenn auch hier als Nischenprodukt.

Während wir mittlerweile digital ermüden suchen wir nach einem Gleichgewicht in der analogen Welt. Auch wenn uns die Neugierde auf das Aktuellste immer im Nacken sitzt und auch der Drang den Anschluss nicht zu verpassen, gibt es den Wunsch nach einer Entschleunigungs-Taste. Denn für zu viel Veränderung ist laut dem Philosophen Odo Marquard das Menschenleben viel zu kurz: "Wir haben einfach nicht die Zeit, alle oder auch nur die meisten Dinge unseres Lebens neu zu regeln."

Was fehlt ist ein Rückblick auf Vergangenes und auf Vertrautes, um das Neue was wir suchen auch zu erkennen. Und darin liegt wahrscheinlich auch ein Teil des Dilemmas begründet, aus dem sich unsere anwachsende Unzufriedenheit erklärt:
"Ohne das Alte können wir das Neue nicht ertragen, heute schon gar nicht, weil wir in einer wandlungsbeschleunigten Welt leben." meint Marquard weiter und empfiehlt allen "viele Götter, viele Mythen – Geschichten, die gegen Uniformierung Widerstand leisten. Dafür brauchen wir Kirchen, aber auch gute Romane, Museen, Bibliotheken. Und die Philosophie."

Sich ständig wandelnde Menschen, ohne den Rückbezug auf Vergangenes, sind buchstäblich fehlgeleitet und verpassen den Anschluss an ihre eigenen Werte und Traditionen, die ihnen die Möglichkeit geben sich zu reiben, dagegen zu stemmen oder auch im Guten zu versöhnen. "Weil sie einem alten Mythos der Moderne aufsitzen, der den schnellen Wandel von allem und jedem - nach dem Vorbild des technischen Fortschritts - zu fordern scheint. Aber da ist eine Schwierigkeit: das wachsende Veraltungstempo. Je schneller das Neueste zum Alten wird, desto schneller veraltet auch das Veralten selbst, und umso schneller kann Altes wieder zum Neuesten werden. Rascher Wandel scha"t Vertrautheitsdefizite. Kinder, für die die Wirklichkeit unermesslich neu und fremd ist, tragen ihre eiserne Ration an Vertrautem überall bei sich - ihre Teddybären."

Ein Plädoyer für den Teddybären, der sich nicht nur im Plüschfell mit Knopfaugen zeigen muss, sondern sich auch in der direkten Kommunikation mit anderen Menschen oder eben in einem einfachen Innehalten, Re!ektieren und Zurückschauen zeigen kann. Am besten noch in Ruhe und ohne die Unrast der digitalen beschleunigten Welt. Ganz einfach Mal offine.

Im Grunden genommen ist die Problematik einer "wandlungsbeschleunigten Welt" nichts Neues. Schon die Zeitgenossen der Romantik suchten nach einem Gegenpol zur beginnenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert und fanden diesen vor allem im Rückzug zur Natur oder !üchteten sogar in phantastische aber auch biedermeierliche Welten – versunken in egozentrischer Melancholie. Mir fällt hierbei das Bild Caspar David Friedrichs ein "Der Wanderer über dem Nebelmeer" (um 1818). Ein einsamer Mann steht im Zentrum des Bildes mit dem Rücken 5 zum/r Betrachter/in auf einem Felsen und blickt über ein dichtes Nebelmeer auf eine zerklüftete Berglandschaft. Es ist das Bild einer Naturgewalt, deren Kräfte stärker sein zu scheinen als jemals von Menschenhand Erscha"enes. Es scheint, als hätte er seinen persönlichen Gott, seinen Mythos – wie zuvor von Odo Marquard empfohlen – gefunden. In der vom koreanischen Illustrator Kim Dong-Kyu überarbeiteten Version des Bildes, sieht man denselben Wanderer mit einem gezückten Smartphone ein Foto der vor ihm liegenden Landschaft schiessen.

Dies spiegelt das Phänomen wider, alles und jeden sofort auf sein Smartphone bannen zu wollen und im nächsten Atemzug sogleich auf Instagram & Co. zu posten. Vor einiger Zeit ging ein Foto durchs Netz: John Blanding, Fotograf der Boston Globe, lichtete eine wartende Menge vor einem Kino in Brookline, Massachusetts ab. Jeder mit einem Handy in der Hand, in der Ho"nung den Augenblick der ankommenden Filmstars photographisch zu erhaschen. Fast jeder starrt durch das nur wenige Zoll große Gerät. Durch einen Rahmen, der zwar das Ziel direkt ergreifen soll, aber den eigentlichen Moment und das Setting herum außen vor lässt. Alle scheinen mit ihrem Smartphone beschäftigt bis auf eine ältere Dame. Sie lehnt in freudiger Erwartung, mit einem Lächeln und überkreuzten Armen auf der Absperrung und genießt ganz einfach den Moment. Sie wartet, ohne das Warten zu dokumentieren. Sie wartet, ohne das Warten mit anderen zu teilen. Sie wartet ganz einfach für sich und ohne Beweisaufnahme oder Bestätigung dabei gewesen zu sein.

Doch was bedeutet es in einer Welt zu leben, in der das Verhalten dieser Frau schon ein Phänomen ist und wir mit Verwunderung feststellen, woher wir eigentlich gekommen sind. Das ist vielleicht der springende Punkt, den Roger Willemsen tre"end zusammengefasst hat: "Es gab Kosmonauten, die auf ihre Reise Musik mitnahmen, aber zuletzt fast nur noch Kassetten mit Naturgeräuschen hörten: Donnergrollen, Regen, Vogelgesang. Andere hatten ein Gemüsebeet im All und züchteten Hafer, Erbsen, Rüben, Radieschen und Gurken, strichen mit der Hand!äche beseligt über die frischen P!änzchen oder empfanden tiefe Trauer, als Fische in einem Becken die Reise nicht überstanden. Am äußersten Ende der Exkursion zu den Grenzen des Erreichbaren, die technologische Rationalität mit einer Meisterleistung krönend, entdeckten sie das Kreatürliche, das Spirituelle und das Moralische und kehrten zurück zum Anfang, …"

Claude Lévi-Strauss schrieb schon 1955 in seinem Abgesang über die "Traurigen Tropen" dieses herzergreifende Pamphlet. Ein Rückbesinnen auf das Wesentliche im Leben, die Sinnlichkeit einer banalen Betrachtung scheinbarer Kleinigkeiten, das Innehalten in Zeit und Raum, ganz für sich zu sein oder auch mit anderen. So wie es Momo im gleichnamigen Roman Michael Endes für uns erkämpfte und für die es sich lohnt, den gewohnten Orbit im www auch mal zu verlassen: "... in den kurzen Augenblicken, in denen es die menschliche Gattung erträgt, ihr bienen!eißiges Treiben zu unterbrechen, das Wesen dessen zu erfassen, was sie war und noch immer ist, diesseits des Denkens und jenseits der Gesellschaft: zum Beispiel bei der Betrachtung eines Minerals, das schöner ist als alle unsere Werke; im Duft einer Lilie, der weiser ist als unsere Bücher; oder in dem Blick – schwer von Geduld, Heiterkeit und gegenseitigem Verzeihen –, den ein unwillkürliches Einverständnis zuweilen auszutauschen gestattet mit einer Katze."

Es sind die zwischenmenschlichen Gesten, die sozialen Interaktionen im Hier und Jetzt, die uns wieder zu dem Punkt unserer Herkunft zurückführen. Das "Hier" als der Ort aus dem sich diese Betrachtung erschliesst, ist allerdings auch von unserer eigenen Positionierung auf der Welt abhängig. Wenn wir uns als das Zentrum der Welt erleben, nehmen wir eine bestimmte Haltung gegenüber dem Rest der Welt ein. Das was dabei zwischen mir und dem anderen liegt, ist vor allem Distanz. Das betri"t andere Menschen, aber auch die Erde und somit die Natur an sich.

"Humankind has not woven the web of life
We are but one thread within it
Whatever we do to the web, we do to ourselves
All things are bound together
All things connect"
Ted Perry für Chief Seattle

Doch wie würde sich unsere Erde und somit auch unsere Wahrnehmung drehen, wenn wir uns nicht mehr als das Maß aller Dinge empfänden? Wenn wir uns plötzlich wie die Guugu Yimithirr – ein Stamm der Aborigines von Australien – anhand der Gestirne und Himmelsrichtungen orientieren würden? Dann würden wir wie sie, unabhängig von unserem Körper und der uns vertrauten Links-/Rechts-Orientierung, die Welt als universelles Maß aller Dinge wahrnehmen. Dann würden wir für einen Ort, der hinter uns liegt durch uns selbst hindurchzeigen und uns nicht dafür extra umdrehen. Wir wären somit nicht mehr wichtiger aber auch nicht weniger wichtig als alles andere auf der Welt. Die zuvor empfundendene Distanz wird zur Einheit gewandelt. Man ist Teil von etwas Größerem und Übermächtigen, man ist Teil der Natur.

"What is life? It is the !ash of a fire!y in the night. It is the breath of a bu"alo in the wintertime. It is the little shadow which runs across the grass and loses itself in the sunset." Crowfoot (1890), Stammeshäuptling der Blackfoot-Indianer in Kanada

Bis heute hat sich bei fast allen Naturvölkern – so auch bei den Ainus auf Hokkaido – der Glaube erhalten, dass Geister und Götter ihre Berge, Seen und Flüsse, Bäume sowie Tiere bewohnen. Ihre Welt ist durch-zogen von Ahnengeistern, Frühlingsgeistern, Hausgeistern, Geister der Gesundheit und des Herzens, … diese überirdischen Wesen, genannt kami, werden als übernatürlich und heilig betrachtet und wollen mit

Ritualen und Zuneigungen beschwichtigt sowie verehrt werden. Die Filme des japanischen Animationsstudios Ghibli sind durchdrungen von solchen zauberhaften Wesen, z.B. in "Prinzessin Mononoke", "Chihiros Reise ins Zauberland" oder in "Das wandelnde Schloss". Wenn auch hier beein!usst von Japans vorherrschenden Glaubenssystem, dem Shintoismus, dessen gemeinsame Wurzeln mit dem Bekenntnis der Ainus sich nicht abstreiten lassen, haben sie alle ein gemeinsames Ziel: das Ehren von Freundschaften, der Kampf um Gerechtigkeit und das Bewußtsein für die Natur. Und auch wenn Hayao Miyazaki, Vater von Ponyo, Totoro und vielen anderen Fabelwesen Ghiblis, von sich selbst behauptet: "I do not believe in Shinto", so gesteht er sich zumindest ein: "but I do respect it, and I feel that the animism origin of Shinto is rooted deep within me." (2010)

Ein sich Kümmern um Mensch und Natur scheint nicht nur nachvoll-ziehbar, sondern unabdingar für den Einklang mit sich und der Welt auf der wir zu Hause sind.
"We can learn about it from exceptional people of our own culture, and from other cultures less destructive than ours. I am speaking of the life of a man who knows that the world is not given by his fathers, but bor-rowed from his children; who has undertaken to cherish it and do it no damage, not because he is duty-bound, but because he loves the world and loves his children…"
Wendell Berry (1971), Umweltaktivist
"….We must protect the forests for those who can't speak for themsel-ves such as the birds, animals, fish and trees."
Chief Edward Moody, Häuptling der Nuxalk Nation (1999) Die Rückbesinnung auf Werte der Menschlichkeit, wie z.B. Solidarität und Empathie, die Möglichkeit der Kontemplation und der Sinn für die schützenswerte Schönheit der Natur, können durch eine Neupositionierung der eigenen Wahrnehmung Säulen unserer Welt sein. Diese Säulen geben uns nicht nur Halt, sondern auch eine Richtung für eine bessere Zukunft, in der das weltweite Netz der digitalen Kultur nur zweitrangig ist.

Sabina Muriale

 

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