ACH, DU LIEBE ZEIT «Zeit gibt, Zeit nimmt.»

Die Zeit im Raum

Vor Jahrzehnten im Arbeitszimmer eines Freundes, das er in Komaba an der Todai mit seinem japanischen Kollegen teilte: Im geräumigen Zimmer 2 Schreibtische - wie 2 Inseln, fast schon unerreichbar. Denn rechts und links vom Tisch häuften sich vom Fußboden aufwärts Zeitungen und überragten schon die Tische, andere Stapel lagen vor den Regalwänden, auf Büroschränken oder türmten sich auf dem Couchtisch. Auf dem Sofa und den beiden Polstersesseln gerieten die Türmchen in eine ziemliche Schieflage, der unebenen Fläche und der Nylon-Hülle wegen. Denn die meisten Exemplare waren noch verschweißt, also ungeöffnet. «Die Zeit» stand groß auf den Titelseiten. In chronologisch geordneten Kolonnen reihten sich die Jahrgänge, «Zeit» um «Zeit». Tanabe-sensei lächelte: «Wenn ich einmal Zeit habe, dann werde ich «Die Zeit» lesen...»  -  Eine großformatige deutsche Wochenzeitung, 80 Seiten zu allen Themen der Gesellschaft, Berichte, Analysen, Kommentare aus aller Welt  -  und wöchentlich eine neue Ausgabe dazu! Die hier angesammelte Zeitgeschichte verglichen mit der eigenen verbleibenden Lebenszeit zur Aneignung von Wissen - waren das nicht 2 Scherenteile, die immer mehr auseinander gehen? Ein Anflug von Melancholie erfasste mich. Bevor mir richtig schwindelig wurde - angesichts dieses illusionären Vorhabens eines Lesehamsters, läutete das Signal zum Unterricht.

Von heute aus dieses Büro erinnernd: die Materialisierung von Zeit als eine (unbeabsichtigte) Kunstinstallation aus der Phase des Noch-Analogen. Ja, nun haben wir alle Printmedien online, eine weltweite Synchronisation der Abläufe wie nie zuvor (man denke nur an die weltweit ineinandergreifende Industrieproduktion oder an internationale Flugpläne); heute haben wir einen göttergleichen Blick auf alles in der Welt – mit ein paar Maus-Klicks. Auch eine Illusion! Denn woher sollen wir die Zeit nehmen, alle verfügbaren, nahezu gleichzeitigen Nachrichten meist beunruhigenden Inhalts zu verarbeiten, ohne in panikartigen Alarmismus zu verfallen?

Was ist Zeit?

Für mich selbst weiß ich es, aber fragt mich einer, was Zeit sei, so weiß ich es nicht mehr, so schrieb ein spätantiker Gelehrter. Zeit ist etwas Mysteriöses, ja Unfassbares: Ich sitze JETZT da und der Moment davor ist schon vorbei, unwirklich geworden. Und wieder und wieder. Dieses Zeitverrinnen! Dass wir nicht in Melancholie fallen, dafür sorgt schlechthin unser Drang nach Weltaneignung. Und der verschlingt Zeit, so enorm viel Zeit, dass wir vollgefüllte Terminkalender haben (höchstens einmal ein «Zeitfenster», wo wir noch einen Termin einschieben können), «Zeitmanagement» benötigen, «Auszeit» nehmen, als müssten wir uns aus der Zeit herausstehlen, um uns zu erholen!

Der Lebensphilosoph Henri Bergson dachte, dass das Zeiterleben ein Konstrukt unseres Bewusstseins sei. Unser abstrahierender Verstand ordnet Gefühle und Empfindungen wie Objekte im Raum, tatsächlich aber fließen Bewusstseinsströme ineinander und färben psychische Zustände auf unser gesamtes Innenleben ab. Das ständige Werden und Vergehen ist Bergson zufolge die wahre Zeit (die Dauer), die sich weder messen noch ausschließlich rational analysieren lässt, sondern als notwendige Ergänzung die Intuition braucht.

Einstein antwortete einmal ganz lapidar: «Zeit ist das, was man an der Uhr abliest.»

Ja, das Metronom ist die reine Zeit, mechanisch und abstrakt. (Aber nicht einmal sie vergeht überall gleich schnell, so z.B. in der Höhe minimal schneller.) In der Physik ist Zeit («t») eine Größe, die die Abfolge von Ereignissen beschreibt und damit eine eindeutige, unumkehrbare Richtung hat: von der erforschbaren Vergangenheit über die Gegenwart, die wir gerade erleben, in die noch offene Zukunft.  -  Der Physik-Revolutionär Einstein untersuchte die Komplexität unseres Universums. Er verknüpfte die Zeit mit den Dimensionen des Raums zur «Raumzeit», die sich in 4 gleichberechtigte Dimensionen, nämlich die 3 Raum- richtungen und die Zeit, aufgespannt. Sein Alltagsbeispiel : Ein Date zwischen 2 Personen ist nur möglich, wenn sie am selben Ort zur selben Zeit anwesend sind (Leider kannte er online-dating noch nicht.). Ihm war auch klar, dass es keine absolute Zeit gibt: Die Zeit verginge viel schneller neben einem netten Mädchen/Jungen als neben einem zu heißen Ofen...

Wir stehen im Alltag hauptsächlich in einem emotionalen Verhältnis zur Zeit. Erleben wir Schönes, sind Stunden einen Wimpernschlag kurz; erfahren wir Schlechtes, dehnen sie sich unendlich aus... In der Psychologie wird untersucht, dass unser Zeitempfinden subjektiv ist, wir Zeit unterschiedlich wahrnehmen, dass unser Zeitgefühl auch nicht mit der Uhrangabe identisch sein muss. – Auch eine therapeutische Funktion wird der Zeit zugeschrieben: «Kommt Zeit, kommt Rat.» (Deutsches Sprichwort), «Die Zeit heilt alle Wunden», so Voltaire. Mark Twain ergänzte dazu, sie sei aber eine schlechte Kosmetikerin.

Langeweile Ja, der passende Lebensrhythmus. Zu wenig Zeit erzeugt Stress, zu viel Langeweile. Das leere Verstreichen der Zeit, Ereignislosigkeit, Warten empfinden wir oft als quälende Langeweile. Eine sinnlose Arbeit als Totschlagen von Zeit. Wir haben Angst vor der eigenen Leere und fliehen in die Betriebsamkeit, als müssten Ereignisse und Beschäftigtsein unsere Zeit «zudecken». Kirkegaard machte die provokante Aussage, Kultur sei eine einzige Flucht vor der Langeweile...

Zeitmaschine, Zeitreise, Zeittunnel

Sich in der Zeit rückwärts bewegen kann man nicht, physikalisch gesehen. Aber Literatur ist wie Kino eine funktionierende Zeitmaschine. Eine Reise ins 19. Jahr- hundert oder in die Zukunft, eine Weltreise, alles machbar. Schreibende können mit der Zeit spielen, vor- und zurückspringen, in Vergangenheit und Zukunft. Wir spazieren durch Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts, erforschen aus der Perspektive eines Katers Tokyoter Viertel und ihre Bewohner, machen eine Odyssee ins Weltall und ja, vielleicht leuchtet dank eines Kinderbuchs die Kindheit wieder auf. – Und wer weiß, womöglich schafft es auch die Mode, uns ein anderes Zeitgefühl, ein leicht futuristisches (?), zu verschaffen...

Corona-Zeiten

«Ein enormes weltweites Experiment», so der Soziologe Hartmut Rosa, erlebten wir gerade, nämlich eine «forcierte Entschleunigung», einem globalen Stau vergleichbar. Tatsächlich war es eine Denkunmöglichkeit, dass keine Flugzeuge mehr fliegen, Schulen, Firmen, Konzertsäle und Cafes schließen.... nur die allernötigsten Geschäfte offen bleiben und ganze Städte unter Quarantäne stehen. Es war so und in abgemilderter Form gibt es das weiterhin. Unser globales Wirtschaftssystem beruhe ja auf Beschleunigung:  Je mehr Zeit dank digitaler Technik eingespart wird, desto mehr muss auch die frei gewordene Zeit wieder genutzt werden ( noch mehr Kommunikationskanäle, noch mehr Termine, noch mehr Reisen, noch mehr Angebote...). Die gesellschaftliche Situation kann sich nur durch Steigerung erhalten, sonst brechen die Wirtschaftssysteme ein. Optimierung auf allen Ebenen und Verfügbarmachung der ganzen Welt. Und dann kam das Virus, eine Winzigkeit, die man nicht sehen, riechen oder schmecken kann, und es war «die Rückkehr der Unverfügbarkeit als Monster». Denn einen effektiven Impfstoff gab und gibt es bislang noch nicht. Und: Die meisten Menschen hatten Zeit wie nie zuvor, und sie machten aber keineswegs das, was sie immer schon gern gemacht hätten, wäre nur die Zeit da(!). Malen, James Joyce endlich lesen, Klavierspielen lernen... Dies ergab eine deutsche Umfrage. Vom Normalmodus des «Keine-Zeit-haben» plötzlich in einen Stillstand mit viel aufgezwungener Freizeit und häuslicher Enge zu fallen, damit umzugehen, erzeugte vorwiegend Misstrauen, Angst und Frustration.

Es gibt vielleicht bessere Zeiten, wir haben jedoch nur diese, in der wir leben. Und so suchen wir noch einen Umgang mit den neuen Bedingungen. Auffällig ist, dass es eine verstärkte Hinwendung zu Landschaftsthemen wie Renaturierung oder einen enormen Gärtner-Boom gibt. (Während der Corona-Krise war Samengut nahezu ausverkauft.) In der Gartenarbeit erleben wir die uralte zyklische Zeiterfahrung wieder.

Zeit ist das, was uns das Geschenk unserer Existenz bringt; und die Zeit nimmt uns das Geschenk auch wieder, so sagte der theoretische Physiker Carlo Rovelli in einem Interview. Nützen wir sie also und lassen der Intuition viel Raum.

Zukunftsoptimistisch sangen einst die Rolling Stones:

«Time, time is on my side, yes it is, yes it is.»

Karin Ruprechter-Prenn (April 2020)

 

Hot – Dauerbrenner und brandneu

Gerade in unsicheren Zeiten stellt sich die Frage was Bestand hat und wie dieser innerhalb eines von Veränderungen geprägten Spektrums definiert werden kann. Gleichzeitig verspricht man sich von der Entwicklung von Neuem (meist neuen Technologien) Antworten und Lösungen für gegenwärtige und zukünftige Problemstellungen. Wenn Zukunft und damit per Definition Veränderung die Gegenwart bestimmt, wie kann dann etwas überhaupt noch von Dauer sein bzw. anhaltenden und nicht nur kurzfristigen Wert haben? Vor dem Hintergrund der Zerstörung ökologischer Systeme wird die Notwendigkeit einer umfassenden ökonomischen und gesellschaftlichen Transformation immer dringender. Damit verbunden ist eine Redefinition der zeitlichen Dimension von Produktion, was die Lebensdauer von Produkten sowie die Vorstellung von Produktneuheit betrifft. Ausgehend von den hyperbeschleunigten Produktionsmechanismen, wie sie in der Modebranche praktiziert werden, reflektiert Edwina Hörl über die Zeit in Form von zwei Kollektionseinheiten, die das Thema Lebensdauer und Neuheit von Produkten aufgreifen. Die Assoziation von permanent Neuem mit Zukunft und der Wille diese Zukunft zu beschreiten, hat seinen Preis, wie die Diskussion um Nachhaltigkeit längst gezeigt hat. Kann man langfristig gesehen dieser Entwicklung nur entgegen treten, indem die Produktionsverfahren, auch die Prozesse zur Entwicklung des permanent Neuen, neu gedacht werden? Wenn das Neue so vergänglich ist wie der Moment, dann definiert die Perspektive aus der Zukunft das Ablaufdatum des Neuen.

For ever

Edwina Hörl reagiert auf diese Fragestellungen zu Zeit (Dauer) und Raum (Umwelt) mit der Analyse ihrer eigenen Herstellungsverfahren, indem sie ihre Kollektionen aufteilt, in eine Sparte, die zeitlose klassische Standardmodelle anbietet, und eine Sparte, die Neues in Form spekulativer Zukunftsmodelle entwickelt: «Dauerbrenner und brandneu». In der neu startenden «Dauerbrenner»-Reihe wird es darum gehen in der Vergangenheit entwickelte Schnitte und Designs anhand neuer Stoffe und Details zu variieren und neu zu interpretieren, indem Schnittideen auf ihre Zeitlosigkeit, Zeitresistenz und Dauerhaftigkeit hin überprüft und wiederverwertet werden. Durch diesen Prozess der sanften Modifikation werden bestehende Schnittideen im Sinne einer Rekontextualisierung aufgewertet. Verbunden mit der Wertschätzung eines Produkts ist die im Produkt angelegte Zeitleiste. Welche Designs haben über einen längeren Zeitraum hin das Potenzial Klassiker zu werden, unabhängig von Trends und aktuellen Einflüssen? Resistenz von Material, Offenheit im Entwurf und ein breites Identifikationsspektrum für potenzielle Träger*innen scheinen Voraussetzung dafür zu sein. Image und Status transportierende Kennzeichen, identitätsbildende Signalwirkung, sowie der Kontext, in dem ein Kleidungsstück getragen werden kann, werden dabei auf eine allgemeine, verbindende Ebene gehoben. Um die Benützungsdauer eines Produktes zu verlängern, müssen einerseits die qualitativen Bedingungen gegeben sein und anderseits muss eine emotionale Bindung zu dem Produkt aufgebaut werden können.

Wenn nun sozialer Status über einen nachhaltigen Umgang mit Produkten definiert wird und nicht mehr über die Kaufmenge und die Kaufkraft, dann stellt sich die Frage nach der Produktdauer und der Vorstellung des immer Neuen neu. Wovon hängt es ab, ob altes oder neues wertvoll oder wertlos ist, Bestand hat oder nicht? Neben der Ausführung und Qualität der Produkte, also dem materiellen Wert, spielen Emotionen, Erinnerungen und Zukunftswünsche, die mit Objekten verbunden werden, eine Rolle. Ist die Zukunft des Neuen also die spekulative Bezugnahme auf bereits Bestehendes oder die Entwicklung spekulativer Möglichkeitsoptionen? Sowohl als auch, so wie immer.

Time after time

Die «Dauerbrenner» Sparte begleitet Edwina Hörls aktuelle Kollektionen, die mit jeweils neuen Designs auf gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen verweisen. Sie reagiert damit nicht nur auf die Frage der Zeitlichkeit von Innovation, sondern befasst sich mit Zukunftsfragen, die uns alle bewegen. So referiert sie mit der Neupositionierung durch die Kollektionsaufteilung auch auf den Begriff der Resilienz. Mit Resilienz (von lateinisch resilire«zurückspringen, abprallen») wird die Fähigkeit zur Selbstregeneration, Anpassungsfähigkeit, sowie Widerstandsfähigkeit u. a. von Personen, Materialien oder von ökologischen Systemen bezeichnet. Man könnte den Begriff der Resilienz («zurückspringen») dem Begriff der Avantgarde («Vorreiter, Gruppe von Vorkämpfern»1) gegenüber stellen, mit dem in der Moderne Neues im Sinne von grundsätzlicher und längerfristiger Veränderung gemeint war. Mit der Postmoderne wurde der Begriff Avantgarde von der Parallelität unterschiedlicher neuer Stilrichtungen abgelöst, wodurch die Vorstellung eines linear verlaufenden exklusiven Neuen beendet und aufgespalten wurden.

Im Zuge der durch den globalen Kapitalismus beförderten Klimaerwärmung stellt sich die Frage nach dem Reproduktionszwang des permanent Neuen neu. Wenn das Neue, das meistens mit Technologie und Innovation gleichgesetzt wird, vielfach im Bereich nachhaltiger Produkte und alternativer Lebensweisen gesehen wird, assoziiert man damit zunehmend ökologisch basierte Lösungsansätze. So beschäftigt sich Resilienz mit der Frage, wie man bestmöglich mit einer bereits gegebenen Krisensituation umgehen kann, während Nachhaltigkeit auf Prävention und Langfristigkeit setzt. Die Degrowth Bewegung hingegen propagiert Reduktion von Wirtschaftswachstum, da ihrer Überzeugung nach, Wirtschaftswachstum nicht von Umweltbelastung entkoppelt werden kann. Diese alternativen Modelle, die jeweils unterschiedliche Lösungsansätze propagieren, wie man das Überleben der menschlichen Spezies in Zukunft gewährleisten kann, sehen sich mit einem enormen Zeitdruck konfrontiert, der nicht mehr viel Spielraum zulässt. Dabei stellt sich die Frage nach möglichen Handlungsoptionen immer wieder neu, zunehmend in Richtung der Dezentralisierung des Subjekts: Nicht mehr der Mensch wird als Zentrum der Welt gesehen, neue Perspektiven und objektbasierte Subjektpositionen werden im Rahmen der Aufhebung dualistischer Trennungsmodelle wie Subjekt-Objekt, Mensch-Natur, Natur-Kultur etc. als zukünftige Optionen diskutiert. Im Bezug auf Mode könnte das bedeuten, dass Kleidungsstück und Träger*in als gleichwertige Entitäten interagieren.

Now or never

Die Frage, was bleiben bzw. sich verändern soll, ist eine der ältesten der Welt. Der Wettstreit zwischen Konservativem und Revolutionärem ist immer mit Ängsten und Hoffnungen verbunden, die im zeitgeschichtlichen Kontext verankert sind. Die Bewertung innovativer Entwicklungen ist oftmals schwierig, da Auswirkungen von Veränderungsprozessen, wie beispielsweise Technologiefolgewirkungen, in der Gegenwart meist nicht absehbar sind. Vergangenes wiederum wird oftmals idealisiert oder ignoriert.

Mode geht sowohl von der Vergangenheit als auch von der Zukunft aus, indem sie einerseits Stilelemente aus anderen Epochen aufgreift und andererseits Gegenwart aus der Zukunft gestaltet. Damit ist ihr sowohl eine gleichbleibende Struktur als auch eine radikale Beschleunigung immanent. Zukunft wird antizipiert, um Gegenwart zu gestalten. Armen Avanessian spricht von einer Richtungsänderung der Zeit. Algorithmen wissen schon im Vorhinein was wir wollen, wie wir uns verhalten werden, was wir begehren sollen etc., wenn man beispielsweise an Amazon denkt. Nicht mehr Hollywood oder die Modebranche, sondern digitale Konzerne und ihre Agenten (Influencer) geben uns vor, was wir begehren, wie wir sein sollen, mit welchen Personen oder Objekten wir uns identifizieren sollen. Unsere Zeitvorstellung ist also durcheinander geraten, es handelt sich nicht mehr um eine lineare Zeit im Sinne einer Vergangenheit, auf die die Gegenwart und die Zukunft folgen. Es ist eher umgekehrt, wie Armen Avanessian und Suhail Malik in ihrer Konzeption des Zeitkomplexes ausführen: «Die Zukunft ereignet sich vor der Gegenwart, die Zeit kommt aus der Zukunft»2. Wir leben also in einer spekulativen Zeit, wo Zeit (Zeiträume, Zeitdauer) als Spekulationsobjekt gehandelt wird, wodurch einerseits Unsicherheiten befördert und andererseits Möglichkeitsspektren eröffnet werden können.

Gegenwart wird von der Zukunft her gestaltet, deswegen ist Zukunft das begehrte Unbekannte, das bespielt werden kann. Übertragen auf die Produktion von Objekten bedeutet das, dass der jeweilige Produktwert in der Zukunft liegt. Damit verbunden ist jedoch ein Wertverlust in der Gegenwart, begleitet von einer Nichtwertschätzung von Produkten, wie sie schnelllebiger Konsum mit sich bringt. Produkte, die für eine kurze Lebensdauer angefertigt wurden, sind so konzipiert, dass das Nachfolgeprodukt bereits als Sehnsuchtsobjekt mit integriert ist, wenn man beispielsweise an die Produktion von Smartphones denkt. Die Lebensdauer eines Produktes stellt hier kein Qualitätsmerkmal mehr dar, weil das Nachfolgeprodukt bereits in den Startlöchern steht. Wenn das Wegwerfen von Produkten billiger ist als Reparatur oder Reinigung, werden dadurch nicht nur Rohmaterialien, Produkte und ihre Herstellung entwertet, sondern es folgen daraus auch Ressourcenausbeutung, Dumping Löhne und immer größer werdende Müllberge. Die in der Produktion angelegte Kurzfristigkeit der Produktdauer hat also Auswirkungen auf Arbeitsbedingungen, Konsumverhalten und Umwelt. Zukunft wird nicht nur im Produktkontext, sondern ebenso im privaten Bereich wettbewerbsorientiert spekulativ inszeniert: Subjektive Erfahrung in der Gegenwart wird erst über das Versenden von inszenierten Fotos real, deren Wert nur so lange anhält wie die Versandzeit dauert. Damit wird subjektive Erfahrung als Augenblickserlebnis in Form von Lifestyle zum Selbstmarketing-Tool, das in die Zukunft wirken soll. Die beschleunigte Abfolge von Selbstinszenierungsfotos oder Produkterscheinungen ist vergleichbar und wirkt durch Überproduktion inflationär.

Kurzfristig zwanghaft Neues, das ökonomisch definiert ist, erschöpft sich zunehmend im Zuge des wachsenden ökologischen Bewusstseins. Spekulativ Neues wiederum stellt konventionelle Muster auf den Kopf und denkt Lösungsansätze von neuen Perspektiven her. Hier eröffnen sich neue Möglichkeiten für Designentwicklung im Bezug auf Wertsetzungen: einerseits was die Produktdauer und andererseits was die Kombination von Ästhetik und Ökologie betrifft.

Sabine Winkler

[1] ursprünglich militärische Bedeutung: „Vorhut einer Armee»
[2] Armen Avanessian und Suhail Malik, Der Zeitkomplex:

     bb9.berlinbiennale.de/de/der-zeitkomplex

 

 

zeit + raum 時空

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