aus dem gleichgewicht

Wir müssen uns strukturell helfen, den
Engel in uns nach vorne zu bringen.

(Maja Göpel, 2021)

Ein Schwindel erfasst mich beim Versuch, das Funktionieren der Welt auch nur ansatzweise zu begreifen und Splitter von Fakten zu sammeln, die alle hauptsächlich auf eines hinweisen: Das Ungleichgewicht steigt dramatisch. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft weit offen, die roten Linien in der prekären Arbeitswelt sind schon überschritten. Die Kipppunkte in der Klimakrise sind punktuell bereits ein Faktum: die Verluste in der Biodiversität, Dürre, verschwundene Seen, unterbrochene Kreisläufe in der Natur... Die Ereignisse und Phänomene, die das belegen, passen gar nicht in einen einzelnen Kopf. 

Beginnen wir doch mit dem menschlichen Körper und seinem Gleichgewichtssinn, ohne den wir weder aufrecht stehen noch laufen könnten. Balance zu halten und sich in einer Welt zu orientieren, die aus oben und unten, vorne und hinten, rechts oder links und noch viel mehr besteht, ist keine simple Sache. Für diesen Balanceakt braucht er unterschiedliche Informationen, die ihm verschiedene Sinne liefern: Das Sehen, die Wahrnehmung und Stellung des eigenen Körpers im Raum und das Gleichgewichtsorgan im Ohr.

Koordiniert werden alle Infos im Gleichgewichtszentrum im Hirnstamm, wo auch die Befehle an die Gelenke, Muskeln und Augen geschickt werden, die für die Aufrechterhaltung der Balance sorgen und notwendige Korrekturbewegungen ausführen, um uns beim Gehen zurecht zu finden. Ein gestörter Gleichgewichtssinn, dieses Missempfinden wie ein Schwindel, entsteht durch fehlerhafte Interpretation von Informationen im Zentralnervensystem. Wer auf einem stark schwankenden Schiff ein Buch liest, der meldet seinem Gehirn eine widersprüchliche Botschaft von Ruhe und Unruhe seines Körpers. Soweit, so harmlos.  - Schlimmer sind psychogene Schwindelanfälle, ausgelöst durch psychische Überbelastungen wie berufliche und private Konflikte oder durch ein generell schlechtes Umfeld, die Gleichgewichtsstörungen wie Gangunsicherheit, Fallneigung und sogar Panikattacken auslösen können. Signifikant oft trifft dies bei Menschen mit Angststörungen und Depressionen zu, beides häufig auftretende Erkrankungen. (Informationsportal der Neurologen und Psychiater im Netz.)

Wird uns bewusst, was für eine Feinabstimmung allein schon der menschliche Körper (um von der schwerer fassbaren Psyche zu schweigen) benötigt, damit wir uns stabil fortbewegen können, dann kriegen wir auch eine leise Ahnung davon, dass ein auch nur relatives Gleichgewicht in der Welt lediglich in unendlicher Annäherung erreicht werden kann. 

Im Grunde schlittern wir an noch größeren Katastrophen immer wieder nur haarscharf vorbei: Da wurde gerade noch rechtzeitig ein Terroranschlag aufgedeckt, dort ist der Staudamm doch nicht gebrochen....einmal konnte ein Strom-Blackout in Teilen Europas verhindert werden, einmal konnte ein Flüchtlingsboot im Mittelmeer noch gerettet werden (aber für viele ist es ein Grab geworden) ... Das Risiko ist stets da. Und wir befinden uns in einer medialen Dauermoderation von Krisen. Betäubend. 

Der Wut und Not vieler steht die inhaltsleere Rhetorik der Politik gegenüber. Debatten, Proteste, Konflikte, Weltkonferenzen zu allem Möglichen, Klima-Gipfel in Rio, in Paris... Wir leben in einer sich immer interdependenter entwickelnden, zusammenwachsenden oder auch konfliktuös aufeinanderprallenden Welt (Kriege), die die individuelle wie institutionelle Aufmerksamkeit der Menschheit erfordert. In einer „Weltrisikogesellschaft“ ( Soziologe Ulrich Beck bereits 1985 ). Und zwar mehr denn je, denn unser Erfahrungswissen ist gestiegen. Wir leben in „Risiko-Wirklichkeiten“(Beck); Bankenkollapse, Corona-Pandemie,  Klima,... niemand kann sich davor völlig zurückziehen, selbst wenn Reichtum mehr Schutz bietet. 

Und junge bestinformierte Aktive wie in der Fridays for Future-Bewegung lassen sich nicht mehr mit folgenlosen Versprechen von Politik und Wirtschaft abspeisen. Sie wissen, dass Wissen nicht genug ist, sondern Instrumente zur Veränderung nötig sind. Sie haben einen anderen Zeithorizont und sich zum Glück nicht daran gewöhnt, in einer endlosen und zugleich unsicheren Gegenwart ohne Zukunft zu leben...

Aus dem Gleichgewicht: ein Beispiel-Mix

  • Geräte zu reparieren ist teurer als neue zu kaufen. 
  • Fast Fashion-Kleidung wird tonnenweise verbrannt.
  • Immobilien sind oft reine Geldanlageobjekte. Sie stehen leer. Ärmere Menschen finden allzu oft keine Wohnung mehr.
  • Billigen Zeitarbeitern, von VW von Leiharbeiterfirmen jahrelang ausgeliehen, werden die Verträge nicht verlängert. Der Konzern aber feiert 2020 Rekordgewinne für die Aktionäre.
  •  „www.taxmenow“ ist eine Plattform, auf der ca. 40 europäische Jungmillionäre:innen ihre Staaten auffordern, ihr Erbe doch zu besteuern! Sie hätten dafür nichts geleistet, müssten keine Steuer zahlen  -  ganz im Gegensatz zu Menschen in der Arbeitswelt. Marlene Engelhorn aus Wien will z.B. 90% ihres Millionenerbes abgeben, sie akzeptiert nicht, dass die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter wird, nicht zuletzt wegen der fehlenden Vermögenssteuer. (Übrigens: Der US-Milliardär Warren Buffett erzählt gerne, dass er weniger Steuern als seine Sekretärin zahle.)
  • In der Pandemie zeigte es sich, dass die bekannte Work-Life-Balance in eine Schieflage kam: Die einen verloren ihre Arbeit, andere sollten am besten 24 Stunden arbeiten... -  „Hass im Netz“: Hetze, Fake News, Hass diffundieren durch die sozialen Netzwerke, die eine Entfesselung von Gewalt wie beim Sturm auf das US-Kapitol möglich machten. – Von Netz Utopisten anfangs als Demokratisierungsmaschine bejubelt, sind social media heute auch eine Desinformationsmacht.
  • Bio-Piraterie: Wir „importieren“ Landfläche aus Ländern, indem wir ihre  Ressourcen verbrauchen. 

„Inzwischen gibt es für immer mehr Menschen immer weniger Planet.“ Die Nachhaltigkeitsforscherin Maja Göpel stellt unser auf permanentes Wachstum ausgerichtetes Wirtschaftssystem in Frage, denn es sorge dafür, dass die Menschheit den Planeten zerstöre und sich die Eigentumsverhältnisse wieder dem Feudalismus angleichen, also Überreichtum für eine kleine Gruppe und immer mehr prekäre Verhältnisse für alle anderen. Und Maja Göpel sucht gemeinsam mit anderen Forscher:innen nach einem zukunftsfähigen Entwicklungsmodell, das jetzige Wirtschaftssystem schaffe den Öko-Wandel nicht. Unser System muss nachgeben, ein anderes  nachgebaut werden. Ein Prozess der schrittweisen Transformation also.

Einige  ihrer  Gedanken, die keineswegs alle neu sind:

Die Klimakrise ist d i e Gerechtigkeitsfrage, die wiederum eine Verteilungsfrage ist. Verteilungsgerechtigkeit und eine Rückkehr zum menschlichen Maß ist wichtig. Die Erzählung vom ewigen Wachstum, von dem alle profitieren sollen, hat sich nicht bewahrheitet, weder ökologisch noch sozial.

Viel zu viel Geld kursiert in der Welt, aber es kommt nicht dort an, wo wirkliche Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen wären, weil sie keine Kaufkraft haben.

Wir benötigen ein System, in dem Umweltschonung und nicht Zerstörung profitabel ist. Wir bezahlen keine „echten“ Preise, denn der co2-Ausstoß, die Ausbeutung von billigen Arbeitskräften usw. werden nicht berücksichtigt. Jedes Ding hat einen „Umwelt-Rucksack“, zyklisch gedacht. (So hat z.B. ein Goldring einen 2.000 kg schweren Rucksack, wegen des Materials, des Wasser- und Energieverbrauchs, des Mülls...)

Die Natur ist ein großartiger „Dienstleister“, wenn wir sie machen lassen und nicht so stark intervenieren. Es ist absurd, dass sie sich unseren Strukturen anpassen soll; vielmehr sollen wir Menschen wieder ändern, was wir selbst geschaffen haben.

Als bizarres Beispiel dient Maja Göpel die „Roboter-Biene“, eine Drohne, die die Pflanzenbestäubung anstelle der Bienen bewerkstelligen soll. Wäre es da nicht intelligenter, das Bienensterben aufgrund der vielen Pestizide zu verhindern?

Für nachhaltiges Wirtschaften braucht es die 3 R-Leitlinien: 

Reduce, Re-use, Recycle. 

Wertschöpfung geht zusammen mit Wertschätzung, z.B. von Leistungen für das stärkere Wohlergehen der Gesellschaft. Unter welchen Bedingungen geht es uns gut, ist die Frage. 

Vom „bösen“ Autofahren, Fliegen und Fleischessen soll hier nicht mehr die Rede, obwohl die „Biene Maja“ auch Antworten zu bieten hat... 

Nach diesem „Bienen-Ausflug“ stellt sich wieder etwas Hoffnung ein. Wenn wir es gemeinsam wollen, können wir die Ungleichgewichte besser austarieren. Wir haben zu tun!

Karin Ruprechter-Prenn 09/2021

 

out of balance

Die aktuellen Krisen führen ökologisches, soziales und ökonomisches Ungleichgewicht in ihren Extremen vor. Hitzewellen und Großfeuer, Überschwemmungen und Tornados sind Ausdruck der von den Menschen verursachten Klimaerwärmung, die als Symptom für das gestörte Gleichgewicht der Menschen zur Natur gesehen werden kann. Die Ungleichheit zwischen Arm und Reich nimmt zu, Ökonomie erfährt nach wie vor eine nicht zu rechtfertigende Vorrangstellung gegenüber dem Leben an sich. Auch die Pandemie kann als ein Symptom extremer Kapitalisierung und globaler Ungleichheit gesehen werden. Die Simultanität der Krisen hängt mit dem zunehmend rauer werdenden Kapitalismus und dessen Auswirkungen zusammen, wodurch Biodiversität und Lebensbedingungen gefährdet und Verhaltensweisen radikalisiert werden – im Namen von Optimierung, Effizienz- und Wachstum.

Im neoliberalen Verständnis existiert Gleichgewicht als Soll-Wert in Form einer Work-Life-Balance, wodurch Leistungsfähigkeit gesteigert werden soll, bzw. möglichst keine Kosten durch Krankheit anfallen sollen. Balance bezeichnet hier ein Lifestyle Produkt, dass optimales Funktionieren selbst- oder fremdorganisiert garantieren soll. Marketing Floskeln und Selbstinszenierung bedienen sich einer vermeintlichen Notwendigkeit der Superlative, um sich von Durchschnittlichkeit bzw. von einem Mittelwert abzusetzen. Das was zählt sind emotionale Extreme und Aufmerksamkeits-Scores, weniger die Vernunft oder die Vorstellung einer ethische Wertsetzung, wie Aristoteles das u.a in seiner Definition des Begriffs Mitte, μεσότης (Mesotes), beschreibt.

Radikale Balance

„In seiner Nikomachischen Ethik erklärt Aristoteles die Glückseligkeit (Eudaimonia, εὐδαιμονία) zum Hauptziel eines gelungenes und guten Lebens, das aktiv durch tugendhaftes Handeln erreicht werden kann. Tugend wiederum definierte er als Mitte zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig, wobei diese Mitte nicht arithmetisch festgelegt, sondern vom Subjekt bestimmt ist. Die Glückseligkeit liegt im tugendhaften Handeln, das durch kluges Abwägen und vernunftbasierte Entscheidungen geprägt ist.“[1] Aristoteles Vorstellung eines guten Lebens, als an der Mitte orientierte Entscheidungsfindungen, die zwischen zwei entgegengesetzten Extrempositionen ausbalanzieren, beinhaltet im Hinblick darauf, was das gute und beste Handeln ist und der Forderung nach praktischer Umsetzung, ein Verständnis von Mitte als Extrem.

„Für Aristoteles stellten die Mittleren nicht die Masse der Gesellschaft dar, die mit Mittelmaß gleichgesetzt wurden (Friedrich Nietzsche), sondern die Mittleren waren jene, die virtuos zwischen Zuviel und Zuwenig entscheiden vermochten, beim schwierigen Verfolgen eines Ziels. In diesem Sinne stellte für Aristoteles die Mitte keinen Zustand dar“[2], sondern die Kunst der Abwägung beim Treffen von Entscheidungen. Mitte meint hier also nicht Mittelmäßigkeit, sondern bezeichnet die Fähigkeit des vernunftbasierten Abwägens und dementsprechenden guten Handelns.

Verlangt nicht somit Balance im Sinne von sozialer und ökologischer Ausgeglichenheit, Gleichheit und Gerechtigkeit nach radikalen Maßnahmen? Das scheint eine der dringendsten Fragen zu sein, wenn man an die aktuellen Krisen, wie Umweltzerstörung und soziale Asymmetrien denkt. Eine situationsbedingte Vernunft, die sich auf die Zukunft bezieht, verlangt in diesem Sinne extreme Maßnahmen, um sozialem und ökologischem Ungleichgewicht entgegenzuwirken.

Mythos Gleichgewicht?

Ist die Vorstellung eines Gleichgewichts in der Natur nur eine vom Menschen kreierte Ordnungsprojektion, ein Phantasma, das nicht der Wirklichkeit entspricht, oder handelt es sich dabei um eine Idealisierung von Natur? In der anthropozentrischen Vorstellung eines natürlichen Gleichgewichts wird Natur als harmonisch und ein sich selbst regulierender Mechanismus verstanden. Was aber wenn sich die Realität jenseits dieser menschlichen Sichtweisen und Ordnungsschemata abspielt und Leben wie Zerstörung auch kontingent sind? Natureigene Prozesse werden durch bestimmte Ordnungen und Mechanismen definiert, werden aber neben dem inhärenten Chaospotenzial, unbestrittenerweise, vor allem durch die Interventionen der Menschen gestört. Wenn aber das Ausmaß der Störung der Ökosysteme soweit fortgeschritten ist wie jetzt, und natürliche Selbstregenerierung immer schwieriger wird, braucht es dann nicht wiederum menschliche Interventionen, um das Schlimmste zu verhindern? Neben Reduktion und Einschränkungen hinsichtlich des Wachstumsdogmas werden menschliche Eingriffe in Ökosysteme höchstwahrscheinlich nötig sein, um während der fortschreitenden Umweltzerstörung diese bestmöglich aufzuhalten, paradoxerweise.

Werden wir es schaffen in Symbiose mit anderen Lebewesen zu leben, wie Donna Haraway das vorschlägt, um hierarchisches Ungleichgewicht zu eliminieren? Kann durch eine so erreichte artenübergreifende Neuordnung vorübergehend zumindest so etwas wie Gleichgewicht entstehen, und mehr als menschliches Leben weiter bestehen? Ohne radikale Veränderungen in unseren Vorstellungen und Lebensweisen wird zunehmende Ungleichheit den Kampf ums Überleben bestimmen. Schwindelgefühle sind gewiss, wenn die Vorstellung vom Gleichgewicht in der Natur ein Mythos ist, der an unterschiedliche Nutzungsbedingungen geknüpft ist. Wie kann man aus dem Ungleichgewicht heraus gerechtere und nachhaltige Lösungen der Fürsorge entwickeln?

Das Ungleichgewicht in der Balance

Ist Gleichgewicht ein kurzlebiger Zustand der vorübergeht, ein unbeständiges Objekt des Begehrens oder steht es für vernunftbasiertes Handeln? Unsere Vorstellungen von Ausgewogenheit, eines guten Lebens oder eines Gleichgewichts in der Natur sind kulturell oder ideologisch geprägt. Das Postulat vom Gleichgewicht verschleiert oftmals Ungleichheiten und asymmetrische Eigendynamiken, wenn man beispielsweise an die Behauptung des sich selbst regulierenden Marktes denkt. Während extreme Ungleichheit erzeugt wird, wird Gleichheit behauptet. So besteht die vermeintliche Ausgewogenheit des Finanz-(Marktes) aus einzelnen spekulativen Instabilitäten, deren Funktionsprinzip durch Extrempositionen bestimmt ist. Im Namen von Freiheit (der Märkte) werden Extreme gerne als ausgewogene Möglichkeiten angepriesen. Vergessen wird dabei meist der Hinweis darauf, wer das Risiko trägt, bzw. wie Risiko ausgelagert wird. Je mehr Risiko, desto größer der Gewinn/Verlust und damit die Ungleichheit.

Die meisten Parteien nehmen für sich die Position der Mitte in Anspruch. Gemeint ist damit, dass sie für alle Bevölkerungsschichten als wählbar erscheinen wollen. Ihre Politik hingegen ist es oftmals nicht, wenn man beispielsweise daran denkt, wie neoliberale Politik extreme Ungleichheiten befördert.

Damit kommt man zur Frage der Definition, was als Ausgeglichenheit und Ausgewogenheit innerhalb gesellschaftlicher Strukturen bezeichnet wird. Was heute extrem erscheint ist morgen normal, was heute normal ist, ist morgen extrem. Die Grenzen sind fließend, ideologisch  umkämpft. Extreme stehen oftmals für Veränderungen, Gleichgewicht für Vergangenes an dem man sich orientiert oder für Ersehntes, das eine bessere Zukunft mit stabilen Lebensbedingungen verspricht. Balance kann natürlicher Zustand sein, zufällig gefunden werden oder künstlich hergestellt werden.

Diktat der Besonderheit

Hat Gleichgewicht und Ausgewogenheit überhaupt noch einen Stellenwert in unserer durch digitale Medien geprägten Zeit? Wenn Extreme oder extreme Sichtweisen  Konjunktur haben, zumindest in den sozialen Medien, steht Balance für Langeweile, dafür, dass nichts außergewöhnliches passiert, dass Normalisierung die Ordnung bestätigt. Datenflut verlangt nach Aufmerksamkeit, die durch emotionale Impulse und inszenierte Aufgeregtheit permanent umkämpft wird. Nicht Reflexion zählt, sondern schnelle aufeinander folgende Impulse, die auf extreme Reaktionen abzielen, um Stimmungen zu generieren und in der Folge von User-Daten zu profitieren. Balance vonseiten der User*innen bedeutet die erwünschten Likes und Feedbacks zu erhalten, frei von Shitstorms digital agieren zu können, störungsfrei, am besten mit einer 5G Verbindung. In der Schnelligkeit des Datenflusses verliert sich so etwas wie ein Mittelwert, gefragt ist individuelle Besonderheit, die verpflichtend ist.

Als Gegenbild dazu kann man den alten Begriff des Spießbürgers setzen, der für Mittelmäßigkeit steht – womit aber nicht nur das Gewöhnliche und Durchschnittlichkeit gemeint sind, sondern die zwanghafte Einforderung und Umsetzung von Normen. Wenn jedoch das Diktat der Besonderheit herrscht, dann ist das Besondere bereits zur Mittelmäßigkeit verkommen. Alte spießbürgerliche und neue Social Media Verhaltensweisen treffen sich genau hier: im Zwang einem Rollenbild zu entsprechen, in der fortwährenden Inszenierung des optimierten Scheins und in der davon abhängigen Selbstvergewisserung.

Sabine Winkler

 

[1] Vgl. Die Nikomachische Ethik, www.getabstract.com/de/zusammenfassung/die-nikomachische-ethik/4316

[2] Vgl. Herfried Münkler, Die Entstehung des Mitte-Paradigmas in Politik und Gesellschaft, www.bpb.de/apuz/196717/die-entstehung-des-mitte-paradigmas-in-politik-und-gesellschaft

 

 

out of balance

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