Overse╳ed – Underse╳ed – Overdistanced

Frauen und Männer zwischen 20 und 34 Jahren haben Umfragen zufolge immer weniger Lust auf se╳, nicht nur in Japan,sondern auch in einigen europäischen Ländern und in den USA. se╳uelle Lustlosigkeit existiert parallel zu Überse╳ ualisierung und deren Ökonomien und kann als ein sich ausbreitendes Phänomen betrachtet werden. se╳besessenheit und se╳uelle Verweigerung stellen zwei Seiten einer Medaille dar und können als Zwang genießen zu müssen und als Angst vor Genuss gelesen werden. Beide haben mit Distanznahme und der Diskrepanz von se╳ und Liebe zu tun. Innerhalb des Suchtverhaltens der se╳besessenheit wird der/die Andere instrumentalisiert, objektiviert, und fetischisiert, wodurch trotz intimer Nähe, bewusst Distanz geschaffen wird. Es geht nicht um eine bestimmte Person, sondern um die Befriedigung eines Bedürfnisses. Begehren ist hier mechanisiert und als ein um sich selbst kreisender Loop angelegt, der fortwährend Mangel reproduziert.

Was passiert jedoch mit dem Begehren bei se╳ueller Lustlosigkeit? Und handelt es sich tatsächlich um se╳uelle Lustlosigkeit? Oder verändert sich im Moment gerade die Vorstellungvon se╳ueller Lust durch deren Verlagerung in den virtuellen Raum? Distanz, Verbot, das Nicht-haben-können des/der Anderen waren/sind traditionelle Anreize, um Begehren zu steigern. An Stelle des Nicht-haben-könnens tritt das Nicht-haben-wollen, das aus den unterschiedlichsten Gründen zum Gebot werden kann: u. a. weil Begehren als Bedrohung wahrgenommen oder Dating als zu anstrengendempfunden wird, oder weil generell Beziehungsprobleme im Sinne traditioneller Geschlechterrollen damit in Verbindung gebracht werden. Bedürfnisse nach Nähe werden virtuell externalisiert . Vielejapanische Frauen lehnen zunehmend das hierarchisch geprägte klassische Beziehungsmodell ab, das Leben als Singel ist gerade schick. Die phantasmatische, virtuelle Ebene wird als Möglichkeit gesehen, sich möglichen, unerwünschten realen Folgewirkungen direkter Begegnungen oder Beziehungen zu entziehen oder auch traditionelle Rollenzuweisungen zu sabotieren. Angst vor körperlicher und mentaler Nähe, generelle Beziehungsangst, die Angst vor den Abgründen des Anderen, also davor, wie der Andere wirklich ist, ist das eine. Das andere hat mit pragmatischen Gründen wie, nicht verletzt werden wollen, Zeit- und Geldersparnis, Gewohnheit, Sicherheit, Spiellust etc. zu tun. Damit befindet man sich in einem Dauerzustand der Distanziertheit, der ab und an auf der Spielebene virtuell durchbrochen werden kann. Sehnsucht wird durch die Inszenierung von Idealbildern hergestellt und durch Distanz aufrechterhalten. In der Sehnsucht ist die Nichterfüllung des Begehrens als Bedingung angelegt. Die Nichtrealisierung steht im Vordergrund, um das Fantasiesystem nicht zu zerstören. Mangel wird idealisiert, man bleibt in der sicheren Scheinwelt und setzt sich lieber nicht der Gefahr des "to fall in love" (Slavoj Žižek) aus. Liebe ohne Risiko wird angestrebt, der permanente Sehnsuchtszustand der Romance ist das Ziel – und im Computerspiel zu haben. Beliebte Computerspiele wie "Der Prinz bittet um die Hand" oder "Die Jungfrau, die mich liebt" bieten auf virtueller Ebene Begegnungsmodelle an, in denen es keine Probleme, sondern die Illusion perfekter Beziehungen gibt. Unterschiedliche Prinzen können ausgetestet werden – wenn man sie loswerden will, ist das kein Problem. Die Realität wird als risikoreiche Gefahrenzone und als Überforderung wahrgenommen, der Prinz, der keine Probleme macht oder abgedreht werden kann, kommt da gerade richtig, weil er vorhersehbar ist. Wenn Dating, der Prozess des Kennenlernens, ebenso wie das Reale an Beziehungen als nervig, anstrengend und aufwendig empfunden wird, begibt man sich lieber unbekümmert auf Spielebene in ein Beziehungsszenario der Unverbindlichkeit.
Das Agieren in der Datenwelt wird als natürlicher Zustand und als sicheres Terrain erlebt. Reale Beziehungen können zunehmend als traumatisch wahrgenommen werden, weil es mehrund mehr ungewohnt ist, dass keine Technologie zwischengeschaltet ist, die Körper real sind, das Verhalten des/der Anderen nicht vorhersehbar ist und nicht gesteuert werden kann. Oder weil der/die Andere das Fantasiesystem, in dem man sich gerade befindet, stört oder zerstört.

Obwohl der/die Andere als potenzielle Bedrohung gesehen wird, bleibt die Sehnsucht nach Nähe, auch nach körperlicher Nähe und Anwesenheit bestehen. Wenn jedoch zunehmend virtuelle Objekte als Objekte des Begehrens erlebt werden, wird die Kluft zur Realität größer, die Diskrepanz zwischen Idealvorstellung und Realität driftet zunehmend auseinander. Auf der fiktiven Ebene eines Beziehungsspieles wird das virtuelle Gegenüber als Idealfigur inszeniert, die auf symbolischer Ebene Sehnsüchte der MitspielerInnen nicht befriedigt sondern produziert. Computerspiele haben die Sehnsuchtsproduktionsmaschine Hollywood längst abgelöst. Was passiert mit den SpielerInnen? Im Moment des Spielens werden Beziehungen simuliert, Szenarien ausprobiert, die SpielerInnen werden zum Objekt in einem Romantikprogramm. Die Unberechenbarkeit des Subjekts wird nicht mehr nur durch überlieferte Verhaltensnormierungen reguliert, sondern durch die Zwischenschaltung der Technologie als Objekt (Hardware) einerseits und als virtuelle Programmwelten (Software) andererseits. Verhaltensweisen werden sowohl durch Hardware als auch auf der Softwareebene programmiert.

Welche Rolle spielt nun die Mode in diesem immer wiederneu zu definierenden Verhältnis zwischen Distanz und Nähe, zwischen Realität und Fiktion? Kleidungsobjekte können als Kommunikationstransmitter verstanden werden, die Distanz oder Nähe symbolisieren oder auch herstellen können. Als eine Art Botenstoff versprechen sie das eine oder das andere, repräsentieren es immer wieder auf neue Weise, bieten Formen der Inszenierung an. Über ästhetische Inszenierungen wird das Verhältnis von Distanz und Nähe geprägt, werden Wahrnehmung und Kommunikation initiiert, Identifikationsmöglichkeiten angeboten, wird Begehren fiktionalisiert. Edwina Hörl thematisiert in ihrer Kollektion se╳ diese Fiktionalisierungsprozesse und fragt nach der zukünftigen Bedeutungdes Körpers als Objekt des Begehrens. Wenn die Objekte des Begehrens zunehmend im virtuellen Raum gesucht werden, verliert dann der Körper als Ort der Selbstinszenierung seinen ästhetischen Wert? Im Romantic-Computerspiel steht die Inszenierung der Prinzen im Zentrum (die animierten Prinzen sind in historischen Uniformen gekleidet, das Ambiente wirkt europäisch), die Sissi-Trilogie (österreichische Heimatfilme aus den 1950er Jahren über Kaiserin Elisabeth, 1837–1898) scheint eine der Idyll-Referenzen gewesen zu sein. Die Ästhetisierung und Entproblematisierung von Beziehungen als permanente romantische Inszenierung wird in ihrer virtuellen Ausprägung, wie es scheint, von einigen UserInnen als reine (körperlose) Liebe verstanden. Idylle wird als historischer Raum fiktionalisiert, die Kostüme repräsentieren eine Vorstellung von Romance als etwas, das in der Vergangenheit verortet ist. Verändert dieses Phänomen die Rolle von realer Kleidung? Kann reale Kleidung zunehmend als Referenz auf Wirklichkeit gelesen werden, indem Entstehungs- und Produktionsprozesse sichtbar gemacht werden und Geschichte entideologisiert wird? Oder ermöglichen Fiktionalisierungen im virtuellen Raum emanzipatorische Prozesse in der Wirklichkeit? Edwina Hörls Kleidungsobjekte sind und bleiben reale Objekte des Begehrens, immer wieder aufs Neue.

Sabine Winkler

Slavoj Žižek, Das Internet als Kampfplatz: Etwas sehr Merkwürdiges passiert hier, mein Freund Alain Badiou (französischer Philosoph und Schriftsteller, Anm.) hat es wunderbar ausgedrückt, aber es funktioniert auf Französisch und Englisch besser als auf Deutsch. Er verweist auf den Ausdruck "falling in love" bzw. "tomber en amour". Hier ist das Moment des Risikos, des Fallens enthalten. (Auszug aus einem Interview mit Michael Freund) in: Der Standard, 28.9. 2012

Die verse╳te Welt

Die Mode-Spiele sind Camouflage-Spiele, sie machen einen Umweg um die se╳ualität herum, (die soll im geglückten Fall durch die Hintertür wieder hereinkommen). – Nackte Tatsachen wären der Tod der Mode.

"se╳ gibt es es überall in der Natur. (…) Auch Bakterien vermehren sich se╳uell, indem sie genetisches Material austauschen. Prinzipiell pflanzen sich alle Lebensformen durch Rekombination fort oder verfügen zumindest über diese Möglichkeit. se╳ ist der eigentliche Motor unserer Evolution. (…)
Aber se╳ ist noch immer ein Mysterium. Es ist ein extrem komplizierter Mechanismus. Er verlangt Geschlechter, Organe, viel Energie, bedeutet Risiken für den Organismus - und vor allem: Er hat etliche Nachteile. (…) se╳ zerbricht glückliche Genkombinationen. (…) Wenn wir alle an Fitness interessiert wären, wäre se╳ ein Hindernis. Aber se╳ begünstigt die Fähigkeit zur Vermischung. (…) Und dies ist offenbar ausschlaggebend fürdas Leben." (Christos Papadimitriou, Computerwissenschaftler, Evolutions- theoretiker, in einem Interview 2012)
Das Auge der Katze (aus: Die Geschichte des Auges, Georges Bataille,1928)
"Ich bin allein aufgewachsen, und so weit ich zurückdenkenkann, hatte ich vor allem, was se╳uell war, Angst. Ich war fast sechzehn, als Simone, ein Mädchen in meinem Alter, am Strand von X… kennenlernte. Da unsere Familien entfernt verwandt waren, wurden wir rasch vertraut. Wir kannten uns gerade drei Tage, als Simone und ich zum erstenmal allein bei ihr im Haus waren. Sie hatte eine schwarze Kittelschürze an und trug einen gestärkten Kragen. Langsam begann ich zu begreifen, daß sie meine Angst teilte, die an jenem Tag um so heftiger war, als sie unter ihrer Schürze nackt zu sein schien.
Sie trug schwarze, seidene Strümpfe, die ihr bis über das Kniereichten. Noch immer hatte ich sie nicht bis zum Arsch sehen können (Dieses Wort, das ich mit Simone immer gebraucht habe, schien mir die schönste der Bezeichnungen für das Geschlecht). Ich stellte mir vor, daß ich ihren Kittel nur hochzuheben brauchte, um ihren nackten Hintern zu erblicken. Im Flur stand ein Teller mit Milch für die Katze. – Teller sind doch zum Hinsetzen da, sagte Simone. Wollen wir wetten. Ich setze mich auf den Teller.
– Ich wette, dass du es nicht wagst, versetzte ich atemlos. Es war heiss. Simone hob den Teller auf einen Fußschemel, stellte sich vor mich hin, und ohne mich aus den Augen zu lassen, hockte sie sich nieder und tauchte ihren Hintern in die Milch. Eine Zeit lang stand ich regungslos da, das Blut war mir in den Kopf geschossen, und ich zitterte, während ich zu- sah, wie mein steifer Schwanz die Hose spannte. Ich legte mich zu ihren Füßen nieder. Sie rührte sich nicht mehr; zum erstenmal sah ich ihr 'rosaschwarzes Fleisch', das sich in der weissen Milch badete. Lange Zeit verharrten wir regungslos, einer so rot wie der andere.

Plötzlich erhob sie sich: die Milch rann ihr an den Schenkeln biszu den Strümpfen nieder. Sie setzte einen Fuß auf den kleinen Schemel und trocknete sich im Stehen, über meinem Kopf, mit einem Taschentuch ab. Ohne daß wir einander berührt hätten,
gelangten wir, beide im gleichen Augenblick, zum Genuß. (…) Simone sagte. "Ich will nicht, daß du es ohne mich tust." (…) Der Geruch des Meeres vermischte sich mit dem der feuchten Wäsche, mit dem Geruch unserer nackten Leiber und dem des Samens. (…) Unterdes war am Himmel ein Gewitter aufgezogen, und als es Nacht wurde, begannen dicke Regentropfen zu fallen, die nach der erstickenden Hitze eines drückenden Tages Linderung brachten. Das Meer toste schon, übertönt vom langen Rollen des Donners, und Blitze beleuchteten die befriedeten Ärsche wie mit hellem Tageslicht. Ein brutaler Wahnsinn belebte unsere Körper. (…)dieses Ungeheuer war die Gewalt meiner eigenen Bewegungen. Der warme Regen fiel in Strömen und rann
uns über den ganzen Körper. Schwere Donnerschläge erschütterten uns, vermehrten unsere Wut, entrissen uns Schreie, die bei jedem Blitz durch den Anblick unserer Geschlechtsteile noch lauter wurden. Simone hatte eine Pfütze gefunden und wälzte sich im Schlamm: sie erregte sich mit Erde, und die Lust überkam sie, und gepeitscht vom Gewitterguß, hielt sie meinen Kopf zwischen ihren mit Erde verschmutzten Beinen und suhlte ihr Gesicht in der Pfütze (…)."

Michel Foucault über die „dark rooms" in San Francisco: „Du triffst dort Menschen, die für dich dasselbe sind wie du für sie: nichts als ein Körper, mit denen Kombinationen und Formen des Vergnügens möglich sind. Du hörst auf, in dein eigenes Gesicht, in deine eigene Vergangenheit, in deine eigene Identität eingesperrt zu sein."

se╳uelle Begriffe sind die meistabgefragten bei allen Suchmaschinen (…), und wie viel Geld damit jährlich weltweit verdient wird, ist kaum zu schätzen - für die USA schwanken die Angaben zwischen 3 und 10 Milliarden Dollar. Die netzgestützte
Pornobranche ist laut David Slayden das "stillste Big Business der Welt". 

"Herzlich willkommen zur Ase╳ual Visibility and Education Network (AVEN). Aven dient hauptsächlich der Schaffung eines Dialogs innerhalb der schnell wachsenden Gemeinschaft von Individuen, die sich als ase╳uell verstehen." (Website: AVEN. de)

"Beim Schauen des Films "Nymphomaniac" (Lars von Trier) wird klar, das er die ganz zentralen Fragen der menschlichen Existenz in absolut notwendiger Intensität auf den Tisch bringt: Liebe und Tod, Eifersucht und Betrug, Ehe und Kinderkriegen,
Beziehungen und sowohl die Sehnsucht nach dauerhafter Bindung als auch das Unvermögen, für einen Menschen alles zu sein, was er sich wünscht. Das Ausdrücken und Zurückhalten von Gefühlen, das Ausleben von Träumen und die Restriktion
durch sich selbst oder die Gesellschaft, den schmalen Grat zwischen Normalität und Sucht. " (Ruth Schneeberger in Süddeutsche Zeitung, 15.02.2014)

"Jene Körper bewegten sich jenseits. Waren mehr. Wurden alles. Jenseits aller sogenannten erogenen Zonen: Jenseits von sonstwas - schlicht jenseits. Kein Ich, kein Er, nichts als das Körperuniversum, Punkt und Universum zusammengefallen. Ein Körperpaar, liegend in der Unendlichkeitsschleife." (Peter Handke, Die schönen Tage von Aranjuez. Ein Sommerdialog. 2012)

Textmontage: Karin Ruprechter-Prenn

 

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