heimatlos

wir ohne heimat irren so verlorenund sinnlos durch der fremde labyrinth. die eingebornen plaudern vor den torenvertraut im abendlichen sommerwind.

er macht den fenstervorhang flüchtig wehenund läßt uns in die lang entbehrte ruhdes sichren friedens einer stube sehen und schließt sie vor uns grausam wieder zu.die herrenlosen katzen in dengassen,

die bettler, nächtigend im nassen gras,sind nicht so ausgestoßen und verlassen wie jeder, der ein heimatglück besaß und hat es ohne seine schuld verloren und irrt jetzt durch der fremde labyrinth.
die eingebornen träumen vor den toren und wissen nicht, daß wir ihr schatten sind.
max herrmann-neisse 1886–1941

luftveränderung

fahre mit der eisenbahn, fahre, junge, fahre! auf dem deck vom wasserkahn wehen deine haare. tauch in fremde städte ein, lauf in fremde gassen; höre fremde menschen schrein, trink aus fremden tassen. flieh betrieb und telefon, grab in alten schmökern, sieh am seinekai, mein sohn, weisheit still verhökern. lauf in afrika umher,
reite durch oasen; lausche auf ein blaues meer, hör den mistral blasen! wie du auch die welt durchflitzt ohne rast und ruh –:
hinten auf dem puffer sitzt du.
kurt tucholsky 1890–1935

wie leben als mensch,
der nicht mehr bei sich zu hause ist?

weltweit sind etwa 60.000.000 menschen auf der flucht. im eigenen land oder im ausland. in camps, lagern, zeltstädten, containern...
in provisorischen unterkünften aller art verharren menschen in einer art warteposition, ohne aussichten auf verbesserung. millionen in der türkei, millionen in iran... große wanderungsbewegungen in zentralamerika und südostasien. krieg ist nur ein wichtiger grund,
landraub, «landgrabbing», ein anderer...
und nun auch in europa: schon ist in deutschland die bis ende 2015 geschätztezahl von 800.000 flüchtlingen auf mögliche 1.500.000 nach oben korrigiert worden. niemand kennt die genauen zahlen, auch nicht die deutsche bundeskanzlerin. aber alle sehen, dass es täglich mehr werden.

eine welt in einem intensivierten aggregatzustand: wir sind mitten in einer migrationsdynamik, die schon vor jahren eingesetzt hat. aber erst der sommer 2015 vermittelt uns diese bilder mit voller wucht, was rund um den globus passiert. von einem «historischen moment» ist die rede, und wir erleben, wie baff und unvorbereitet die regierungen daraufreagieren. erst jetzt scheint der friedlichere
und reichere teil der welt aufzuwachen. vieleländer, die als sehnsuchtsorte nun diese flüchtlingswellen erleben, haben den fluchtdruck leider auch mitproduziert. zum beispieldurch ausbeutung und waffengeschäfte. europa ist der kontinent, der ideell am stärksten mit «humanitären prinzipien» verbunden
wird. deshalb ist der schock dort so groß. seit dem ende des zweiten weltkriegs waren niemals so viele menschen heimatlos.
was tun? kein land, auch nicht das gut organisierte deutschland, hat schon einen modus gefunden, wie sich die neuen herausforderungen meistern lassen.
«drama», «krise», «jahrhundertproblem», so sagen die einen, «chance», «ressource», «lösung des demografie-problems», so sagendie anderen. dazwischen befindet sich eingutteil der (deutschen) bevölkerung, deren verunsicherung und angst – trotz hilfsbereitschaft – steigt, denn auch die experten können nicht abschätzen, wohin sich die neue situation entwickelt, angesichts so vieler flüchtlinge, die sich alle eine neue existenz wünschen.
und was bewegt die flüchtlinge? sie sind jedenfalls keine nomaden, die in einer klar eingrenzbaren lebenswelt herumziehen und
derart ihr dasein bestreiten. in den migranten «arbeiten» verschiedene welten, die sich gegenseitig überlagern und auch widersprechen.

die erste welt ist ihre heimat, die sie verlassen, aus vielfältigen existentiellen gründen. dieser ort, z.b. syrien, ist bereits eine verlorene welt, wenn sie gehen, denn der ort aus der vorkriegszeit existiert bereits nicht mehr. sie tragen ihn aber weiter in sich, aufbewahrt in der erinnerung und in ihrer sprache. eine rückkehr ist unmöglich, außer in ein anderes«neues» syrien.

die zweite welt von flüchtenden besteht in der vielzahl von welten, die sie durchqueren müssen, jedoch als unerwünschte personen,
als permanent ausgegrenzte aliens, wie nicht von dieser welt. sie haben kein daseinsrecht, keinen boden unter den füßen, sie können
nur weiter, weiter, weiterlaufen. auch unter lebensgefahren. ständig wechselnden welten (auch landschaften, klimata, hunger, gefahren...) exponiert, wo man nicht willkommen ist, muss den schmerzlichen weltverlust verdoppeln. und es ist doch notwendig, irgendwohin zu laufen! es gibt flüchtlinge, die acht länder passieren mussten und es erst beim 6. versuch schafften, nach deutschland zu gelangen. «ich habe in zwei jahren tausende leute kennengelernt und erfahrungen
für 30 jahre gemacht.» (ein 27-jähriger syrer, jetzt in hamburg)
die dritte welt ist das angepeilte zielland, ein ort, wo flüchtende endlich schutz und asyl finden, eine art gelobtes land, das sie versöhnen könnte mit dem verlorenen stück boden zu hause, ein
land, wo sich ihre probleme lösen sollen... 

im wunschland platzen bald viele illusionen,
denn eine gratifikation für die vielen strapazen ist unmöglich und der weg zum positiven asylbescheid dauert. die bedingung eines flüchtlingsleben ist in einer dauerbewegung zu leben, wo sich der
weltbezug ausgehend von einer situation der exterritorialität her konstruiert: ich bin nicht selbstbestimmt, habe keinen rechtmäßigen platz und keine mittel oder ressourcen. wer es aber bis in das ziellandgeschafft hat, hat schon eine schier unglaubliche entschlossenheit, einen immensen willen, äußerste risikobereitschaft, organisationstalent und orientierungsleistung (handy!) manifestiert, kurzum stärke, die im wunschland nichts anderes als von größtem nutzen werden könnte. willkommen in japan!
karin anna ruprechter-prenn

ps: etwas von der figur des flüchtlings steckt in uns allen; besonders dann wenn wir dem alltäglichen «wahnsinn» und seinen zumutungen glauben entfliehen zu müssen, in den nächsten coffee-shop, schnell verreisen (insel!), in eine bar laufen, im internet-ozean surfen, ins bett flüchten... einfach vor unseren schwierigkeiten davon rennen. eine kleine flucht kann heilsam sein, wenn sie uns abstandverschafft. auch unsere phantasie hat einen eskapistischen aspekt, indem sie unszur erfüllung von wünschen und sehnsüchten beflügelt, die die «reale» welt nicht leisten kann...

art direction / so+ba
photography / alfons sonderburger
styling / codan
hair + make-up / yoshie sasaki (sylph)
model / leka, nataliya, mariya, hide, olivier
assistance / yoshiaki kunii, meiri inaba

thanks to sonoko kato, ryusuke kase, yoshiaki kunii, meiri inaba, hirohidetakei, kyoko okura, masanori tsuchiya, sabina muriale, asuman yilmaz, karinruprechter-prenn, sakae ozawa, masako kikuchi, hiroko ito, dune & nid,harumi pr, evelyn hörl, alex sonderegger, susanna baer and sanae ota
www.edwinahoerl.com