GLAUBE, BERGE UND «PROGRAMMIERTE STEINE»

«DER GLAUBE VERSETZT BERGE.» (BIBEL)

«ES GIBT ALLERDINGS UNAUSSPRECHLICHES. DIES ZEIGT SICH, ES IST DAS MYSTISCHE.» (WITTGENSTEIN)

Wir alle könnten am Morgen nicht aufstehen und den Tag zubringen, ohne zu glauben: dass wir unsere Arbeit schaen, uns mit den Menschen um uns irgendwie verstehen, Hilfe erhalten und Schwierigkeiten bewältigen, dass alle die Verkehrsregeln einhalten, ... dass unsere Welt doch funktioniert, auch wenn TV, Radio und Presse uns ständig mit Negativ-Meldungen bombardieren. Täglich ist etwas anderes schrecklich. (Möglicherweise stecken wir aber nur noch in unserer «Social Media-Blase» und nden dort das, was wir glauben wollen – bis hin zu fake news.) Jedenfalls geht es um Glauben. Glauben ist ein existentielles Tun. Eine tägliche Investition in unser Leben und dessen Sinnkonstruktion. Das beginnt mit etwas Selbstvertrauen, dazu kommen Honung und Zuversicht in die Welt. JA sagen gibt Energie, um weiter zu machen. Spirituelle Erlebnisse erleuchten auch für Momente unser Alltagsgetriebe: plötzlich den Fuji-san oder überschäumende Kirschblüten erblicken, eine herrliche Stimme hören oder die (grasche) Schönheit einer mathematischen Gleichung bewundern... Größe, die uns selber übersteigt. Das hat noch nichts mit Religion zu tun. Diese kommt erst ins Spiel, wenn wir religiöse Inhalte mit unserem Glauben verbinden und die Dimension der Praxis dazu kommt: Beten, Rituale, religiöse Feste. In unseren oenen, pluralistischen Gesellschaften bastelt sich schon etwa ein Viertel der Menschen eine «Patchwork-Religion» zusammen: christliche Bräuche, Yoga, Bachblüten, Ayurveda, ...alles, was mir gut tut, ist ok. Genuines Interesse an fremden Glaubensideen, Lifestyle-Moden, Ablehnung eines strengen Glaubenskorsetts u.a. spielen dabei eine Rolle. Synkretismus also. - Es boomen «Lebensfreude-Messen» mit Angeboten zur Lebenshilfe und Selbstheilung: Reiki, Handdiagnostik gemäß Ayurveda, Energiekonzepte auf Basis von «Heilsteinen» und «programmierten Kristallen», die Räume und Menschen regenerieren helfen sollen... Man mag die wolkig-esoterische Sprache von Energetikern belächeln, aber schauen wir uns selber an: Fingerringe, Glücksarmbänder, Hals-Amulette aus Steinen, ein o-mamori an der Tasche... Wir glauben an ihre Kraft, weil sie mit emotionalem Wert aufgeladen sind. Es gibt magische Zahlen, das böse Omen von Freitag, dem 13.; den bösen Blick; das Fußball-Orakel (Krake Paul – leider tot); Kartenlesen; elaborierte astrologische Horoskope; Kontakte mit Toten herstellen; das Daumendrücken: Viel Glück! Und vieles mehr, Lustiges, Harmloses, aber natürlich auch schwer Missbräuchliches. Aberglaube, nichts als Aberglaube lautet das abwertende Wort dafür. Tatsächlich ist es ein Kampfbegri, denn für abergläubisch halten wir immer die anderen, deren Rituale uns fremd sind. (Voodoo, so dachte ich, ist nur ein exaltierter Kult, aber es ist eine anerkannte Religion mit 60 Mio. Anhängern.) Dabei haben sich magisches Denken und Animismus, die in alten Zeiten für das Überleben in der Natur wichtig waren, in unserem Alltag und in der Religion erhalten. Japanerinnen mit Heiratswunsch besuchen den Izumo Taisha, Christen pilgern zu Wallfahrtsorten, benetzen sich mit Weihwasser, setzen sich den Totenschädel eines Heiligen auf, um von Kopfweh geheilt zu werden. 60% der Deutschen glauben an die Existenz von Engeln... Und Wundergeschichten werden immer noch geglaubt. Berühmte Ethnologen wie James Frazer oder Claude Levi-Strauss zogen aus ihren Forschungen den Schluss, Magie und Religion gleichzusetzen, beide sind Kulturtechniken. Magisches Denken sucht Zeichen, sieht Analogien und Korrelationen und erkennt darin Kausalitäten. (Rotes Blutstillen mit roter Panze; bei Verletz- ungen mit dem Messer nicht die Wunde versorgen, sondern das «böse» Messer verstecken... also das Verursacherprinzip.) - Die Staatsmänner im alten Rom versuchten im Studium des Vogelugs die Zukunft zu erkennen und danach zu handeln; es gibt US-Präsidenten, die an Horoskope glaubten. - Die Magie ist eine Vorform von Wissen, es gibt kein Falsizierungsprinzip. Stets gibt es eine Sinnvermutung: Alles ist für uns gemacht, wir müssen es nur entdecken und Kräfte übertragen. Der Glaube an höhere Kräfte ist von evolutionspsychologischer Bedeutung, eine Art Präventivtechnik im Sinne von «Böses kann mir nichts anhaben.» Wenn wir uns beim «magischen Denken» in unserem Alltag ertappen, so dürfen wir uns sagen: Irrationalität kann rational eingesetzt werden. Ich beschwöre das Glück - ganz im Sinne der Self-fulllling Prophecy. Auch stramme Atheisten wie Daniel Dennett, amerikanischer Philosoph, geben zu, religiöser Glaube ist irrational, war aber nützlich fürs Leben: für Gemeinschaften, für ihr soziales Gleichgewicht, ihre Stabilität; als evolutionär gewachsenes System war das (religiös) Spirituelle ein Motor für zivilisatorische Errungenschaften wie Demokratie, Autonomie, freie Presse, Wissenschaft. Heute sollen wir das vergessen, alles macht unser Gehirn mit seinen Trillionen von Mini-Robotern, die mehr oder weniger gut vernetzt sind... Es ist für alles zuständig: Schmerz, Aekte, Bewusstsein, «freien Willen», den es eigentlich nicht gäbe ... Und Religion? Theater und Fiktion! Von ersten und letzten Dingen: Wer sind wir? Was ist Sinn? Wie gibt es überhaupt Leben und nicht nichts? Gibt es ein Weiterleben nach dem Tode? In religiösen Argumentationen und Vermittlungen steckt eine Form des Versuchs, die Wahrheit über unsere Existenz und deren Endlichkeit (oder nicht) zu sagen. Der Tod ist ja die größte Provokation für den Menschen. (Kaum eine Religion kommt ohne Jenseitskonzepte aus.) Ich glaube, dass unter den Wahrheiten über unsere Existenz auch solche sind, die nur in religiöser Sprache sagbar sind. Welche Wahrheiten? Keiner kann sagen, diese oder jene Wahrheit ist es, da es schon ein sprachliches Problem ist, religiöse Erfahrungen auszudrücken. Sie klingen schnell banal. Vielleicht gelingt es im Stottern, wahrhaftig zu sein. Glauben ist ein Wissen, das man nicht beweisen kann. Wir können auch nicht beweisen, daß Gott nicht existiert... Der Buddhismus als eine Art Lebensphilosophie ohne Gott kennt dieses Problem nicht. Als inneren und äußeren Frieden verheißende Erfahrungsreligion, die einen Weg jenseits von Worten und Gedanken - Yoga und Meditation zum Beispiel – anbietet, mit dem Ziel innerer Ruhendung und Selbstbefreiung, hat er sich zu einem global-urbanen Phänomen entwickelt, zu einer attraktiven «Modereligion»...

Leider bleibt kein Raum mehr für Rosa-Elefanten oder das «Spaghettimonster», das in «Nudelmessen» von den «Pastafari» verehrt wird. Vielleicht möchte ja jemand Anhänger werden...

Karin Anna Ruprechter-Prenn

ZAUBER + FORMEL = ?

Das, an woran wir glauben sowie die Frage wie sich Rationales zu Irrationalem verhält und umgekehrt, spiegelt gesellschaftliche Prozesse wider. Der Glaube an die absolute Lösungskompetenz von Ökonomie und Technologie verweist auf eine Mythologisierung von rationalen Systemen im Sinne einer Überhöhung bei gleichzeitiger Leugnung von Irrationalem bzw. irrationalen Handlungsweisen, wenn man beispielsweise an die hochriskanten Spekulationen oder an das Herdenverhalten1 an den Finanzmärkten denkt. Technologiegläubigkeit und Optimierungswahn wiederum zielen in Philosophien wie dem Transhumanismus nicht nur auf die Verbindung von Mensch und Technologie, sondern auch auf die Anpassung des Menschen an algorithmische Systeme durch Quantizierung. Parallel zur Mythologisierung rationaler Systeme boomen Fantasy-Stories, Science Fiction Erzählungen, Monster- Vampir- und Geister-Geschichten. In einer immer komplexer werdenden Welt scheinen Figuren, die für das Unerklärbare stehen, Hochkonjunktur zu haben. Der Glaube an das Irrationale und an das Rationale existiert sowohl parallel als auch als Schnittmenge, wobei die Beziehungen der beiden Systeme zueinander immer wieder neu diskutiert werden, sich im Moment verändern.

VERNUNFT ALS BEFREIUNG UND MACHT

Die Vernunft als universelle Urteilskraft war in der Zeit der Aufklärung (1650–1800) das Mittel zur Emanzipation, es war der Schlüssel um sich von absolutistischen Regimen und vom christlich-katholischen Herrschaftssystem zu befreien. Vernunft, Bildung, die Entwicklung von Wissenschaft bildeten die Basis eines technischen, kulturellen und politischen Fortschritts und begründeten die Idee der freien BürgerInnen, die eigenständig denkend, über ihr Leben selbst bestimmen konnten. Vernunft war das Instrument, um sich von der vorherrschenden Denitionsmacht zu emanzipieren. So wie in der Renaissance (15. und 16. Jahrhundert) der Mensch Gott als Zentrum der Welt abgelöst hatte, wurde in der Aufklärung mit der französischen Revolution das absolutistische Herrschaftsmodell als gottgegebenes abgelöst. Vernunft, Naturwissenschaft und die Idee des Universalismus bildeten die Voraussetzung für ein besseres, selbstbestimmtes Leben. Die auf diesen Ideen basierende Moderne wiederum hat im Namen des Fortschritts Regime der Unterdrückung errichtet. Die Frankfurter Schule (Max Horkheimer und Theodor W. Adorno) behandelten in der «Dialektik der Aufklärung» (1944) das Scheitern der Aufklärung im Nationalsozialismus. Mit dem Versuch, die Natur zu beherrschen, wurde der einst mythische Zugang zur Welt zwar rational gemacht, jedoch fällt die Aufklärung selbst wieder zurück in den Mythos, wenn sie in Form von Herrschaft (instrumentelle Vernunft) auftritt, so die Autoren. Statt Befreiung aus der Unmündigkeit oder aus den Zwängen der Natur wird Vernunft als Herrschaftsmittel instrumentalisiert, indem Anpassung an Ökonomie und Technik gefordert wird. Es geht dann nicht mehr um rationales Handeln des/er Einzelnen, sondern darum, wie im Namen der Ratio manipuliert wird, wie neue Mythen entstehen. Mythologisierung von ökonomischen und technischen Fortschritt wurde und wird u.a. für die Legitimation von Gewalt und Bereicherung eingesetzt. Die Folgen von Dominanzkultur, Diskriminierung des/der Anderen sowie Normierung werden u.a. vom Posthumanismus, von queeren und postkolonialen Theorien in ihren unterschiedlichen Formen der Unterdrückung und Ausbeutung erforscht. Kritisiert werden vor allem die als Dualismus angelegten Gegensatzpaare von Natur/Kultur, Subjekt/Objekt, Mensch/Tier, Mensch/Technologie etc. und damit die Kategorisierung und Festschreibung des/der Anderen.

HYBRIDWESEN

Vertreter des Spekulativen Realismus wiederum gehen davon aus, dass es eine Realität gibt, die ohne Bezug zum menschlichen Denken existiert – einfach so, grundlos vor sich hin «seiend» (Quentin Meillassoux). Realität ist hier also nicht vom menschlichen Denken, Bewusstsein und Diskurs abhängig, der Mensch nicht länger Mittelpunkt, sondern Akteur in einer von vielen möglichen Realitäten. Dingen, Tieren, Technologie wird als Möglichkeit, wenn nicht Agency, so zumindest Wirkfähigkeit zugestanden. Dem Animismus nahe stehende Vorstellungswelten nden sich hier u.a. wieder. So spielt in Rosi Braidottis Posthumanismus-Konzeption der Begri «Zoe» (altgriechisch: bedeutet Leben in einem vegetativen Sinn) eine entscheidende Rolle. Braidotti versteht darunter die dynamische, selbstorganisierende Struktur des Lebens. «Zoe» bezeichnet hier die Kapazität und Tendenz lebender Materie, sich mit anderen lebenden Systemen, auch mit nicht anthropozentrischen Elementen zu neuen Assemblagen zu verbinden. Daran knüpft Braidotti ihre Konzeption der «Nomadischen Subjektivität», womit eine nicht-einheitliche Subjektivität und deren Relationalität gemeint ist. Im Posthumanismus werden dualistische Gegensatzpaare, wie beispielsweise jenes von Mensch und Tier aufgehoben, Egalität für alle Lebewesen und deren potenziellen Verbindungsformen gefordert, um mit diesem Konzept u.a. Festschreibungen des/der Anderen abzuschaen.2 Die Moment in Film und Literatur boomenden Hybridwesen spiegeln diesen Ansatz, sich gegen das Konzept des Othering zu positionieren, wider: So verinnerlichen Cyborgs das Andere, hier in Form der Technik, in der Mensch-Technik-Verbindung, wodurch Technik zum eigenen wird. Auch beim diesjährigen Oscar-Gewinner-Film «The Shape of Water» steht ein Mischwesen, halb Fisch, halb Mensch im Zentrum der in der Hochzeit des Kalten Krieges angesiedelten Love-Story. Das mit heilenden/übersinnlichen Kräften ausgestattete Wesen aus dem Amazonasgebiet wird in einem Militärlabor festgehalten, als Objekt der Untersuchung misshandelt, beide Supermächte wollen es für ihre Zwecke einsetzen oder töten. Über die Denition des Andersseins wird das Mischwesen zu einem Verwertungsobjekt degradiert, das man jeder Zeit töten kann, – dem Wesen wird Wert nur als mögliches strategisch einsetzbares Objekt beigemessen. Für die Aufhebung des Gegensatzes von Menschen- und Geisterwelt wiederum tritt u.a. der Held der Anime-Serie GeGeGe no Kitarō ein, der selbst halb Mensch halb Geist für die Verbindung bzw. Versöhnung von Menschen und Geistern kämpft. Wenn das Irrationale und das Rationale gleichwertig sind, könnten sich Möglichkeiten für nicht hierarchische Beziehungen bzw. andere Wertesysteme ergeben. Das klingt erstmals gut, beinhaltet jedoch auch Problempotenzial, wenn beides nicht mehr von einander unterschieden werden kann bzw. sich das eine für das andere ausgibt.

MYTHEN UND LEGENDEN

Das Unerklärbare wird in einer Vielzahl von Figuren und Erzählungen dargestellt, um damit ktive Erklärungsmuster zu liefern. Märchen, Sagen, Legenden, Mythen etc. sind Beispiele dafür, wie durch ktive Erzählungen/Einbildung Erklärung, Sinn, Identität, Gemeinschaft etc. hergestellt werden sollte. So überhöhen die durch Wiederholung sich einprägenden Erzählungen Personen/Helden/Stars oder Naturphänomene, ktionalisieren gesellschaftliche Ereignisse, kodieren Verbrechen, formen Herrschaftserzählungen und Ideologien usw. Neben den in der Vergangenheit wurzelnden Mythen und Legenden existieren jene der Gegenwart (American Dream, Verschwörungstheorien, Fake News etc.) oder jene der Zukunft (Science Fiction). Wie aber verhalten sich nun Mythos und Logos zueinander, was hat das mit Glaubenssystemen zu tun, und wie werden die Karten, die diese Beziehung denieren, gerade neu gemischt? Der Mythos schat ktionales Wissen durch Erzählung im Gegensatz zur wissenschaftlichen Erklärung, die nachvollziehbar sein muss. Mythische Erzählungen beruhen auf nicht mehr nachvollziehbaren kollektiven Erinnerungen, die sich mit der Zeit verändern, sich aus einem Mix von Überlieferung, Darstellungen in Filmen oder anderen Medien, kollektiven Erlebnissen und individuellen Erfahrungen zusammensetzen. Legenden haben glorizierenden oder desavouierenden Charakter, sie stellen Gerüchte, Falschmeldungen, Propaganda dar, sind tendenziös. Jedoch können gerade auf Fiktion basierende Narrative soziale Gemeinschaft erzeugen. Eine Form zeitgenössischer Legendenbildung wären Fake News, wenn man so will, die in den Echoräumen der Social Media Kanäle zirkulieren, in denen Narrative und UserInnen-Prole nicht nur produziert und reproduziert, sondern auch legendär (im Sinne von urban legend) werden. Fiktion und Inszenierung werden als solche nicht mehr wahrgenommen, sondern für real bzw. wahr gehalten. Wenn Manipulation als Form der Darstellung verinnerlicht ist, verschwindet sie als solche im Bewusstsein. Auf diese Art und Weise werden Geister der Vergangenheit reaktiviert, die man so leicht nicht mehr los wird. Legenden und Mythen können Stimmung für oder gegen etwas (Ressentiments/Vorurteile) verbreiten, Identitäten schaen, Angst oder Honung vervielfältigen oder disziplinarisch einwirken. Gerade Herkunfts- oder Abstammungserzählungen, später Nationalstaaten-Gründungslegenden wird Bedeutung gerade identitätspolitisch zugesprochen. In Mythen werden u.a. Kriege/Katastrophen in Erfolgsgeschichten umgewandelt, reale oder ktive Personen, manchmal Götter, Geister oder Naturkräfte zu Helden oder Mitspielern stilisiert. Reale Ereignisse können Teil von Mythen sein, bzw. Mythen nehmen auf reale Ereignisse Bezug, mythologisieren sie. Gerade Herrschaftssysteme wurden gerne mit dem Übersinnlichen oder mit dem Göttlichen legitimiert.

RELIGIONSSPUK:
GEISTER UND GEISTLICHE

Mit Geisterguren versucht man dem Unverstandenen eine Form zu geben, wie das auch durch die Yokai beispielsweise geschieht. Komplexere Systemerklärungen oder Intentionen werden in mythische Erzählungen oder Legenden eingebettet. Wie verhält sich nun aber die Geisterwelt zur Religion? Eine Vielzahl übersinnlicher Gestalten und Kräfte bevölkern unterschiedliche Religionen, vom heiligen Geist bis zu den Engeln, Dämonen oder Heiligen etc. In Religionen wurden Figuren und Erzählungen aus der Götter- und Geisterwelt vorhergehender oder anderer Glaubenssysteme entweder übernommen oder zum Feindbild erklärt. So wurden beispielsweise Abweichungen im Glauben von den christlichen Kirchen mit dem Tode bestraft, wenn man etwa an die Inquisition, die Hexenverbrennungen, Protestantenverfolgung etc. denkt. Alles was nicht systemkonform war, wurde als Bedrohung des Herrschaftssystems gesehen, und als Magie oder Blasphemie bestraft. Religionen sind institutionell organisier-te Glaubensstrukturen, die Regelsysteme vorgeben, hierarchisch organisiert sind, Gesellschaften disziplinieren und Wertsysteme vorgeben, sowie durch Rituale Gemeinschaft herstellen. Ihre Wirkmacht entsteht in dem Moment, in dem man an sie glaubt und dadurch Verhaltensweisen ändert bzw. der eigenen Agency unterordnet. Besonders monotheistische Religionen basieren auf festgeschriebenen Dogmen, in denen Einüsse anderer Religionen, Naturmythologien oder lokale Riten nicht nur geleugnet, sondern vielfach abgelehnt wurden. Anders in Japan, wo gerade die Verbindung verschiedener buddhistischer Lehren und Institutionen und einheimischer Gottheiten und Geister (kami) charakteristisch ist. Eine im 19. Jahrhundert (Meiji-Ära) per Gesetz verordnete Trennung von Kami und Buddhas, also eine Kategorisierung der Gottheiten und Geister, konnte sich nicht wirklich durchsetzen und wurde nach dem 2. Weltkrieg wieder aufgehoben. Die Vielfalt von Gottheiten und Geistern wird nicht als Widersprüchlichkeit wahrgenommen, sondern Buddhismus und Shintoismus durchdringen und ergänzen einander. Nicht Abgrenzung und Ausschließlichkeit stehen im Vordergrund, sondern regionale Götter, Naturkräfte oder auch vergöttlichte Ahnen sind Teil von Religion. Verbindendes Element ist der Glaube, dass die Gottheiten Wohltaten (riyaku) in diesem oder dem nächsten Leben gewähren können. Sie sind zuständig für Schutz, Heilung, Trost etc. ößen aber auch Angst ein, bzw. spiegeln Ängste oder Belastungen wider. So können Ängste den Glauben an die eigen Ohnmacht darstellen und gleichzeitig den Glauben an die Allmacht der Götter spiegeln. Andererseits gibt es die Lust an der Angst, wie jeder/e HorrorlmliebhaberIn weiß. Ängste sind Ausdruck von Verletzlichkeit, sie können als Symptome von Ungewissheit/Unsicherheit gelesen werden. Inwieweit ist jede Art von Handlung vom Glauben (an was auch immer), Gewissheit und Wissen, aber auch von Verzicht bzw. Verweigerung geprägt? Im Irrationalen liegt das, was nicht berechnet und kontrolliert werden kann, im positiven wie negativen Sinn. Mit der Ratio versucht man das so gut wie möglich in den Gri zu bekommen, mit allen positiven wie negativen Folgen.

WENN DER ZAUBER FORM ANNIMMT

Die Zusammensetzung des Wortes «Zauberformel» spiegelt die Verbindung von Rationalem und Irrationalem symbolisch wider. Die Formel steht im wissenschaftlichen Sinn für die verkürzte Bezeichnung eines mathematischen, physikalischen oder chemischen Zusammenhangs oder einer Regel. Formeln stellen also die Umwandlung eines Zusammenhangs in einen Ausdruck einer spezischen Systematik einer Formelsprache dar. Wenn man eine Formel nun als performative Handlung versteht, sowie ein experimenteller Physiker beispielsweise theoretische Notationen in Handlungen umsetzt, werden Handlungsform und Formel eins bzw. die Formel performt. Über Formeln wird symbolisch Benanntes berechenbar, einem Nützlichkeitsprinzip unterworfen und damit manipulierbar. Irrationalität steht hingegen für Unberechenbarkeit. So bezeichnet der Zauber übernatürliche Wirkungen, magische Manipulationen, die nicht den Naturgesetzen unterliegen, bezeichnet also das, was nicht erklärt werden kann. Die Darstellung des Wortes «Abrakadabra» als Schwindeschema3 stellt Sprache als eine geometrische Dreiecksform dar, macht aus Sprache eine Formel, die das Irrationale beschwört. Die Zauberformel «Abrakadabra» wird als Anordnungsmuster der einzelnen Buchstaben des Wortes dargestellt. Durch die abnehmende Buch-stabenzahl wird ein Dreieck gebildet, wodurch Unheil abgewendet oder Schutz vor Krankheit erreicht werden sollte. Mit dem Aussprechen der Formel soll die Krankheit verschwinden, genauso wie ein Wort verschwindet, wenn man es ausspricht oder wie die Buchstaben im Schwindeschema-Diagramm nach unten hin weniger werden. Dabei steht der performative Charakter im Vordergrund. Mit dem Aussprechen wird die Wirkfähigkeit, das in Kraft treten der Formel als Einleitung für den Heilungsprozess beschworen.4 Das Wort ist eine Formel für den mit dem Sprechakt verbundenen Zauber.

Sabine Winkler

1 Als Animal Spirits werden irrationale Elemente im Wirtschafts- und Finanzgeschehen, wie unreektierte Instinkte, Emotionen und Herdenverhalten bezeichnet, welche zu Schwankungen an den Märkten führen können. John Maynard Keynes erkannte bereits 1936, dass sowohl Spekulation als auch Animal Spirits Instabilität verursachen können und Risikopotenzial beinhalten. Er prägte den Begri in: «Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes».

2 Vgl. Rosi Braidotti, Posthumanismus: Leben jenseits des Menschen, 2014, Campus Verlag, Frankfurt am Main, 220 Seiten

3 Schwindeschema: Anordnungsmuster für Wörter, bei welchem das jeweilige Wort zuerst komplett ausgeschrieben wird und danach unter der vorangegangenen Form dasselbe Wort, jedoch ohne den jeweils letzten Buchstaben geschrieben wird, bis nur noch ein Buchstabe vorhanden ist.

4 Nicht geklärt ist die Herkunft und Bedeutung des Wortes Abrakadabra. «Möglicherweise geht das Wort auf ’Abra ka-Dabra im Aramäischen zurück, was etwa bedeutet: «Es vergeht wie das Wort». Auch ‘Abda ka-Dabra («es geht zugrunde wie das Wort») kommt in Frage. Dadurch, dass ein bestimmtes Wort zum «Schwingen» gebracht wurde, glaubte man beispielsweise Schmerzen lindern zu können». Karl Erich Grözinger: Jüdisches Denken. Theologie – Philosophie – Mystik. Band 2: Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, S. 322.

 

abrakadabra

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