DAS HEMD HALF BUT BIG

Oder wie man aus halben Sachen anders ganze Sachen machen kann.

Für Hemd-Experimente spricht seine lange Geschichte:  Das Hemd ist eine textile Urform und etliche 1000 Jahre alt.  – «Hemd» leitet sich im Deutschen von «hemidi»/ hemedi» her und dies bedeutete ursprünglich Haut und Hülle. Und so trug man es direkt am Körper und war damit noch (fast) nackt und nicht straßentauglich. Das Nachthemd existiert ja bis heute.  In orientalischen Ländern ist ein helles, bodenlanges Gewebe in Hemdform d i e adäquate männliche Straßenbekleidung.  – Als Oberbekleidung für Männer machte es eine abwechslungsreiche Evolution durch, an der auch die Frauen teilhatten: An ihnen sah ein schlichtes Männerhemd besonders sexy aus... Der androgyne Touch. Und das Hemdkleid ist ein Garderobenklassiker geworden. Die Hemdspiele: Männer knöpften ihr Oberteil weit auf; wo Stoff war, quollen nun Brusthaare hervor und prangte gelegentlich eine wuchtige Kette. Völlig offen und im Wind getragen umspielte das Textil bloß noch die männliche Oberkörper-Pracht... Frauen kannten/kennen ihre eigenen Dekolleté-Kalküle.... auch zogen sie die unteren Hemdzipfel zu einem Knoten unter der Brust zusammen und verknappten so den Stoffanteil zugunsten einer gewissen 'Bauchfreiheit'. (Und die Kragen-Spielarten, z.B. die Signifikanz eines Stehkragens, die Manschetten, die Farben und Muster...) Die angedeutete Tendenz zur vertikalen /horizontalen Halbierung ist im Hemdschnitt selbst angelegt: Irgendwie muss man es zu- und aufmachen – und da ist auch die Schnittlinie. H A L F: Eine dezidiert hergestellte Hemd-Hälfte ist ein  Artefakt wie jedes Produkt an sich, aber ein emphatisches.

Die strenge Aussage ist nämlich seine Präsenz als fertig genähtes Stück – als ein Ganzes quasi. Die Hemd-Repräsentation wirkt sogar intensiver, denn die Hälfte weist alle Merkmale wie Kragen, Vorderseite, Rückenteil... auf; in diesem einen Stück können wir das Ganze erkennen, obwohl es nicht vorhanden ist. Es verkörpert bereits die Hemd-Idee, aber es  ist offen.

Vom Artefakt zum Bekleidungsstück: Es handelt sich nicht um ein soziales Teilen, um ein Halbieren im Sinne von «Nimm du die eine Hälfte, ich nehme die andere.» Und keinesfalls handelt es sich um 'halbe Sachen machen' im Sinne von inkompetent arbeiten oder auf halbem Weg steckenbleiben. Es geht theoretisch und praktisch darum, durch die Öffnung, die das Halbhemd entstehen lässt, anders ganze Sachen zu ermöglichen. Was wir in diesem Sinn teilen/trennen, können wir anders verbinden. Schließlich ist die Energie immer auf der Seite der Dissonanz, des Nicht-Ganzen und des Unvollständigen! H A L F B U T B I G: Das Halbhemd wächst in die schiere Übergröße, und diese erweiterte materielle Substanz kann auf verschiedene Weisen um die Körper gelegt, drapiert, verknotet und befestigt werden. Interessante Silhouetten, Plastizität und Dreidimensionalität können so individuell kreiert werden. Die Elemente eines konventionellen Hemdes beginnen zu 'wandern': ein Kragenteil wird Träger, eine Riesenman- schette verrutscht an das Kleid-oder Rockende... Bewusst werden formale Asymmetrien erzeugt, unterschiedliche Farben und künstlerische Bemalungen eingesetzt. Eine neue Kombinatorik entsteht, die unzählige Möglichkeiten generiert. Hemdhybride. Bastarde. Die konservative Einheit/Integralität des Kleidungsstücks 'Hemd' ist aufgebrochen, wieder einmal, das Andere hat hereingefunden – und stellt sich als Variante des Selben heraus... Auch das ist tragbar... und Kleiderpolitik. Sind wir nun beim «Hemd des Glücklichen» angelangt, das es im Märchen von Tolstoi gar nicht gibt, denn dieser besitzt gar kein Hemd...? Vielleicht sollte doch, wie der Autor Handke einmal vorschlug, ein «Tag des alten Hemds» ausgerufen werden, ein Tag, an dem jeder und jede sein ältestes Hemd tragen sollte; möglichst einen geflickten «Hemd-Bastard».

Karin Ruprechter-Prenn

 

Nachspiel

Half But Big But Oversize

Was passiert in dem Moment, in dem ich etwas halbiere und aus beiden Teilen etwas Neues schaffe? Damit verbunden ist die Frage wie man mit Materialien, Stoffen und Objekten umgeht, wie man diese in Beziehung setzt, bzw. welche neuen  Hybridformen durch Kombination und Wiederverwertung entstehen können. Die von Edwina Hörl entwickelten «Half But Big» Objekte eröffnen durch das Teilen und neu Zusammensetzen der Einzelteile des Basismaterials «Hemd» einen neuen Blick auf das Verhältnis der einzelnen Bestandteile zueinander. Es werden Beziehungen von Materialien und Funktionsweisen, Vergangenheit und Gegenwart, Kleidungsstück und Körper analysiert, indem Klassifizierungen aufgehoben werden. Aus einem Hemd wird eine Stoffhülle, die in der Interaktion mit dem Körper, über Drapierungen, eine multifunktionale Form findet – das Hemd ist also nicht mehr als solches eindeutig definiert, sondern bietet eine Vielfalt von Nutzungsvarianten. Basis aller «HBB» Objekte ist also das Hemd, dessen Bestandteile in neuen Anordnungen umfunktionalisiert werden, wenn etwa ein Brustteil zu einem Kragen wird. Die «Half But Big» Objekte bilden den Körper nicht ab, zeichnen dessen Konturen nicht nach, sondern schaffen einen eigenen, vom Träger und der Trägerin formbaren Gestaltungsraum.

Der Prozess des Halbierens stellt hierbei ein Mittel dar, um die Struktur von Kleidungsstücken zu analysieren, um durch das Zerlegen und neu Zusammensetzen Produktionsweisen sichtbar zu machen und Funktionsweisen neu zur Disposition zu stellen. Damit verbunden ist die Erforschung traditionell und kulturell geprägter Design-Modi, deren Zuordnungsschemata Edwina Hörl durch Oversize-Größen aufbricht. Die «Half But Big» Objekte verweisen im Sinne eines Work-in-Progress-Verfahrens auf kulturelle, historische und gesellschaftliche Entwicklungen, reflektieren Widersprüche und eröffnen «tragbare» Möglichkeitsformen.

Die von Edwina Hörl bereits im Jahr 1998 entwickelten «HBB»- Hybrid-Objekte stehen – ebenso wie die daraus, in den Jahren 2000-2007 entstandenen «Half But Big Bastard» Modelle – für diesen kontinuierlichen Prozess, in dessen Verlauf die neuen Modellen die aktuelle Umsetzung darstellen. Die «Bastardisierung»1 stellt Zuordnungsmodelle und damit verbundene Ausschlussmechanismen in Frage. Die Aufteilung und Mischung von Formen, Designs und Kategorien feiert Hybridformen als gleichwertig, unterstützt durch die Teilhabe der Träger*innen in der Formgebung am Körper. Die aktuellen «HBB-Bastard» Objekte greifen nicht nur eine vorhandene Design-Idee auf, sondern verweisen auf das damit verbundene Entwicklungspotenzial. Wann ist eine Idee ausbaufähig und in neuer Form wiederverwendbar, in welchem Kontext werden Ideen aus der Vergangenheit als Prozess reaktiviert?

Ideen-Nachwirkungen

Die Modegeschichte ist das Beispiel dafür, wie Trends und Styles aus früheren Epochen aufgegriffen und gesampelt werden, um damit neue Trends zu setzten. Dabei spielen aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und Phänomene eine wichtige Rolle, die oftmals in der Vergangenheit bereits angelegte Fragestellungen in neuem Gewand widerspiegeln und auf aktuelle Ereignisse reagieren. Durch die zeitliche Distanz verändern sich Sichtweisen auf bestimmte Dinge, die sich sowohl als visionär als auch als fatal herausstellen können. Wie verlaufen Entwicklungsprozesse von Ideen, welche Nachwirkungen haben Ideen, Design-Ideen hinsichtlich ihrer Umsetzungen, wer oder was entscheidet darüber? Der jeweilige «Zeitgeist», aktuelle Fragestellungen spielen dabei eine Rolle: Design-Ideen sind Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen, utopischer oder dystopischer Natur, gestalten diese Prozesse mit, bzw. sind Teil davon, oder verweisen auf zukünftige Entwicklungen.

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Im Nachspiel bietet sich die Möglichkeit sowohl die individuelle als auch die gesellschaftliche Entwicklungsgeschichte wiederholt in neuem Licht zu betrachten und zu reflektieren. Konsequenzen von real gewordenen Ideen offenbaren sich oftmals erst Jahrzehnte später. Wenn man beispielsweise an die Moderne denkt, erschließen sich die darin enthaltenen Widersprüche im vollen Ausmaß erst in ihrer historischen Betrachtung: Vorstellungen von technologischem Fortschritt und einem besseren Leben für alle Bevölkerungsschichten trafen auf technisch optimierte autoritäre Systeme (Faschismus). Widersprüchliches findet sich ebenso in Gestaltungsideen, wie man das beispielsweise in der Realisierung von Bauhaus2- Konzepten sehen kann. So beinhaltet das Bauhaus Design ein gesamtgesellschaftliches Konzept, das zeigt, wie urbane und private Räume und Beziehungen sozial gestaltet werden können, wobei realisierte Wohnungsbauten etwa, sowohl in die Zukunft wiesen als auch das Scheitern von Konzepten der Moderne architektonisch manifestierten. Das volle Ausmaß der Zerstörung unseres Planeten durch Industrialisierung und Kapitalisierung zeigt sich wiederum in den aktuellen Diskussionen über Nachhaltigkeits-Modelle. Die Friday for Future Bewegung kann letztendlich ebenfalls als Reaktion auf Auswirkungen der Fortschrittsdynamiken und Ausbeutungsmechanismen, wie sie in der Moderne als Zukunftsversprechen vertreten wurden, gesehen werden.

Im Nachspiel erfahren Ideen und Ereignisse neue Einschätzungen bzw. Bewertungen, die von einem distanzierten Standpunkt, bzw. von aktuellen gesellschaftlichen wie individuellen Entwicklungen definiert werden. In Zeiten spekulativer Korrelationen scheinen kausale Zusammenhänge eine neue Bedeutung zu gewinnen, gerade wenn man an Interpretationsdefizite sowie an Technologiefolgeeinschätzungen denkt. Wenn nichts einen Grund hat, ist zwar alles möglich, jedoch sagt das erstmals nichts über die Qualität oder Wahrhaftigkeit neuer Bedeutungen oder Sichtweisen aus. Dem Bewusstsein über Folgewirkungen individueller Verhaltensweisen sowie globaler Entwicklungen wird zunehmend eine zentrale Rolle zukommen. Lösungsmodelle wiederum benötigen spekulative Praktiken und experimentelle Handlungsoptionen.

Die Geschichte der «HBB» Objekte steht für eine konstante Wertschätzung von Ideen und Objekten, die an ihrem Entwicklungspotenzial, Haltbarkeit und Verwendungsdauer gemessen werden und nicht an ihrem spontanen Hype-Status. Edwina Hörls Oversize-Modelle stehen für spekulative Betrachtungsgrößen, persiflieren festgefahrene Größenordnungen in der Wahrnehmung und führen Oversize-Strategien von Verwertungsmodellen ad absurdum.

Sabine Winkler

 

[1] Bastardisierung: nicht fachsprachliche bzw. veraltete Bezeichnung für Hybridisierung.

[2] Das Bauhaus wurde 1919 von Walter Gropius in Weimar als Kunstschule gegründet. Es bestand zeitlich parallel mit und in der Weimarer Republik von 1919 bis 1933 und gilt heute weltweit als Heimstätte der Avantgarde der Klassischen Moderne auf allen Gebieten der freien und angewandten Kunst und Architektur. «Architektur und Kunst galten dabei nicht nur als Instrumente der Sozialpolitik, sondern als Keimzellen eines Neuanfangs. Daraus sollte eine erneuerte Gesellschaft hervorgehen, welche die sozialen Risse des Kapitalismus und der Nachkriegsnot überwand und – beispielsweise in neu entworfenen Idealstädten – zur Gemeinschaft fand.» bauhaus100.uni-weimar.de/de/geschichte/

 

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