So nah, so fern, so (un-)freiwillig

Nähe und Distanz sind in vielerlei Hinsicht widersprüchlich – wir haben sowohl Sehnsucht danach als auch Angst davor: So steht Nähe für Wohlbefinden und Sicherheit, kann aber auch Unfreiheit, Fremdbestimmtheit, Übergriffigkeit und Gewalt bedeuten. Distanz hingegen ermöglicht neue Perspektiven, Überblick und Reflexion, kann aber auch zu Depression und Isolation führen. Die Balance von Nähe und Distanz ist entscheidend, wobei dieses Verhältnis sowohl kulturell/gesellschaftlich vermittelt wird als auch subjektiv geprägt ist.

Unsere Wahrnehmung und unser Erleben von Nähe und Distanz ist eng mit Technologieentwicklungen verbunden. Räumliche und zeitliche Distanz wird mithilfe von Technologien überwunden, sei es materiell durch Mobilitätstechnologien oder immateriell durch Telekommunikation. Damit wird die Definition von privatem und öffentlichem Raum, was als Nähe und Distanzzone verstanden wird, infrage gestellt, überschritten, erweitert oder auch bestätigt.

Durch Covid-19 werden wir mit neuen physischen Distanzverordnungen konfrontiert, die in unsere Lebensweisen eingreifen und unsere Verhaltensweisen verändern. Über direkte staatliche Verordnungen und indirekte Empfehlungen wurden Abstandsregeln und Home Office bzw. die Aufforderung zu Hause zu bleiben, in den Arbeitsalltag und den Privatbereich implementiert. Mit der Vermeidung physischer Kontakte wird der Wohnraum mehr und mehr zum «Operation Room», wo Telearbeit, Teleproduktion, Teleshopping und Telekommunikation aber auch Teleüberwachung stattfinden. Die Umstellung von einer Nahgesellschaft zu einer Ferngesellschaft1 wird durch Covid-19 beschleunigt. Damit gemeint ist der Wandel von einer materiellen, körperbasierten Gesellschaft hin zu einer immateriellen, telekommunikativen Digitalgesellschaft, in der die Botschaften selbständig reisen, sich über Signale und nicht mehr über Körper verbreiten. Ferntechnologie löst in diesem Modell die Überwindung räumlicher Distanz durch körperliche Mobilität ab. Die Reduktion motorisierter Mobilität stellt angesichts der Klimaerwärmung einen der notwendigen Transformationsprozesse dar.

Während des Lockdowns wurde soziale Nähe vor allem durch Telekommunikation aufrechterhalten. Corona hat die längst vorhandene Tendenz körperlos und virtuell zu interagieren massiv verstärkt. Neu hingegen ist die Stigmatisierung körperlicher Begegnung als Gefahrenzone. Wenn physischer Kontakt zum Risiko wird, stellt sich die Frage, wer beschützt wird und wer dem Risiko ausgesetzt wird. Durch das Ansteckungsrisiko verstärkt sich sowohl die Angst vor körperlicher Begegnung als auch die Sehnsucht danach. Die Pandemie rückt also sowohl die Bedeutung physischer Begegnung (Körperkontakte), als auch unsere Verletzbarkeit ins Bewusstsein, aber auch die Selbstverständlichkeit und das Ausmaß unserer virtuellen Interaktionen. Durch die Abstandsregeln und das Kontaktverbot wird körperliche Materialität zunehmend ambivalent wahrgenommen, unter anderem als risikobehaftetes Objekt des Begehrens.

Wie viel Nähe und Distanz benötigen wir, wie viel Schutz und persönliche Freiheiten wollen wir? Das Verhältnis von Allgemeinheit und Individuum wird über gesellschaftliche Konventionen, Traditionen und Gesetze geregelt, in denen Nähe-Distanz-Vorgaben kulturell vermittelt und überliefert werden. Gleichzeitig wird das Nähe-Distanz-Verhältnis subjektiv sehr unterschiedlich empfunden. Die Vereinbarkeit staatlicher Schutzfunktionen und individueller Freiheitsrechte ist in Pandemiezeiten unterbrochen. Mit staatlichen Schutzfunktionen verbunden ist die Frage, wer als schützenswert gesehen wird und wer nicht. Die Diskussion über die Einschränkung individueller Freiheitsrechte in der Pandemie  beinhaltet hingegen die Frage, was tatsächlich mit dem Begriff Freiheit gemeint ist: Handelt es sich dabei um egoistisch motivierte Ansätze wie Selbstverwirklichung, Lifestyle, Konsumauswahl oder um Grundpfeiler demokratischer Ordnungen wie  Versammlungsrecht, Recht auf freie Meinungsäußerung etc. In den letzten vierzig Jahren neoliberaler Politik wurde Freiheit als eine Art Marketing-Instrument eingesetzt: Über das Schlagwort Selbstverwirklichung wurde Arbeit zur Freiheit erklärt. Dadurch wurde individuelle Freiheit von Selbstkapitalisierung abhängig, was zur Folge hat, dass Freiheit in ihr Gegenteil verwandelt wird. Unfreiheit erscheint als Freiheit oder sogar als Freiheitszugewinn. Vorstellungen von Freiheit, Nähe und Distanz werden u. a. durch Sozialisierung geprägt, stehen in Relation dazu, ob Gesellschaften am Individuum, wie das in westlichen Ländern der Fall ist, oder an der Allgemeinheit ausgerichtet sind, wie beispielsweise in Japan.

Mit Covid-19 rückte durch das Infektionsrisiko die Verletzbarkeit unserer Körper in den Vordergrund. Judith Butler versteht Verletzbarkeit als sozioontologische Bedingung des Menschseins. Verletzbarkeit wird hier als eine allgemeine und von allen geteilte Bedingung des Lebens gesehen. Butler leitet diese Verletzbarkeit, dieses Prekärsein nicht aus der Sterblichkeit der Körper, sondern aus deren Sozialität ab, womit wechselseitige Abhängigkeit, Exponiertsein, Gefährdung, Verletzlichkeit und Schutzlosigkeit als Modus der Beziehung gemeint ist. Das Corona Virus legt die Unhintergehbarkeit dieser Verletzbarkeit sowie deren ungleiche Verteilung frei, führt vor Augen, dass nichts Unverwundbarkeit gewähren kann.

Auf welche Risiken wollen wir uns dennoch einlassen, wo überwinden wir unsere Angst vor Verletzung und nähern uns an? Sind Beziehungen ohne einen gewissen Grad an Risiko überhaupt möglich? Der englische Ausdruck to fall in love verweist auf das mit der Abstandsüberwindung verbundene Risiko des sich Fallenlassens2. Im Zustand des Verliebtseins sind wir in jeglicher Hinsicht schutzlos, offen für die Liebe und offen für Verletzung. Andererseits funktioniert Begehren über das Prinzip Nähe und Distanz bzw. die spielerische Inszenierung von Ab- und Anwesenheit. So wurde beispielsweise die Fernliebe, die Distanz in der mittelalterlichen Minne3 zum Ideal erhoben. Distanz ist hier einerseits die Grundvoraussetzung für Idealisierung, andererseits wird durch die poetische Überhöhung Distanz geschaffen. Begehren und Sehnsucht wird damit aufrecht erhalten. Im Moment der Distanzüberwindung und der Realwerdung einer Beziehung verschwindet die Sehnsucht. 

Die Sehnsucht nach Freiheit oder Schutz, nach Distanz oder Nähe spiegelt sich in der Art und Weise wider, in der wir uns kleiden. Soziale Zugehörigkeiten oder Distanznahmen können in Form von Kleidung körperlich nach Außen getragen werden, um soziale Distinktion und Hierarchien zu vermitteln. Mode, Design, Stilelemente signalisieren als Identitätsmarker bestimmte Bedeutungen zwischen Tradition und Rebellion, um gesellschaftlichen Normen und Zuordnungen zu entsprechen oder um sich von diesen Zuschnitten zu befreien. Die Freiheit Konventionen ästhetisch infrage zu stellen, ist wiederum eine künstlerische Praxis, um Möglichkeitsräume zu öffnen, und Widersprüchlichkeiten in unseren Nähe und Distanzbeziehungen spekulativ zu visualisieren. Materialität und Design sind Mittel um Nähe herzustellen oder Distanzlosigkeit zu vermeiden. Die Berührbarkeit des Stofflichen elektrisiert und verweist auf das vielfältige Spektrum unterschiedlicher Wirkkräfte.

Sabine Winkler

[1] Vgl. Peter Weibel, «Virus, Viralität, Virtualität: Wie gerade die erste Ferngesellschaft der Menschheitsgeschichte entsteht», in Neue Zürcher Zeitung, 20.03.2020

[2] Vgl. Slavoj Žižek, «Wenn man sich verliebt, weiss man noch gar nicht, was man braucht. Das 'Wunder' der Liebe besteht darin, das man erst herausfindet, was man braucht, wenn man es gefunden hat.» Unter Bezug auf den französischen Philosophen Alain Badiou vergleicht Žižek das Internet-Dating mit arrangierten Ehen: «In beiden Fällen ist das Risiko aufgehoben, sich zu verlieben. Es gibt keinen zufälligen Fall (im Sinne von: to fall in love), das Risiko einer‚ Liebesbegegnung' wird durch vorherige Arrangements minimiert.», in: Was ist ein Ereignis, 2016

[3] Mit dem Begriff Minne wird heute meist die höfische Liebe (hôhe minne) bezeichnet, die in zahlreichen Minneliedern besungene, unerfüllte Sehnsucht eines Ritters nach der unerreichbaren Dame (vrouwe). Der Minnesang entwickelte sich parallel zur Etablierung des Rittertums im 12. Jahrhundert. Die Ideale des höfischen Lebens und der Ritterlichkeit wurden dabei in der Literatur dargestellt, entsprachen aber nicht der Wirklichkeit. Im Minnesang wurde eine Frau als Herrin des Ritters verehrt, doch in der Realität hatten Frauen noch immer eine den Männern untergeordnete Rechtsstellung. Im Minnesang war die hôhe minne als entsagende Liebe konzipiert. Das lyrische Ich zeigt sich als idealer, verlässlicher und vorbildlicher Gefolgsmann, der trotz der Unerreichbarkeit der Frau in ihrem Dienst bleiben will. In: Mittelalter entdecken, www.mittelalter-entdecken.de/wortgeschichten-minne-und-liebe/

 

Die liebe Not mit der Freiheit...

«Sei frei, tu, was du willst, aber wolle das Richtige!»
(dt.Soziologe angesichts der Covid-Krise, Feb.2021)

Wir alle sind gerade auf einfache existentielle Fragen zurückgeworfen worden: Wen darf ich noch besuchen oder treffen? Wohin noch gehen? (Alles bis auf Supermärkte ist geschlossen, zeitweise sogar Parks.) Wo muss ich mich mit Maske zeigen? Werde ich noch meine Arbeit haben? Kann mein kleiner Laden überleben? Wächst jetzt eine «Covid-Generation» ohne genügend Bildung und Chancen heran? Wann kommt der nächste Lockdown, die nächste Lockerung? Was ist der Stand der Freiheit in Europa, in der Welt, beherrscht von einem Virus namens SARS-CoV-2/Covid-19 und seinen Mutanten? Einschränkungen von Grundrechten, Verbote, alle Notstandsmaßnahmen gleichen einer fortgesetzten Extremsituation, einem Ausnahmezustand. Das Comeback des Staates als strikte Exekutivmacht.

Das mediale Dauerthema der Pandemie-Situation und deren Folgen verdrängt aber nur scheinbar alle anderen Probleme, denn wie in einem Brennglas fokussieren sich darin auch unsere früheren Probleme: die brennende Klimafrage, die erdrückende soziale Ungerechtigkeit, Rassismus...

Das Virus ist nun das Freiheitsthema, an dem sich Gesellschaften 'abstrampeln', aber nicht in der Theorie (Diskurse der Philosophie, Geschichts- und Politikwissenschaften), sondern in der Praxis – als weltweites Geschehen. Mehr denn je stellt sich die Frage, wie viel Freiraum einzelne in der Gesellschaft haben können oder dürfen. Viren sind keine unsichtbaren

Subjekte, sie wollen sich einfach nur dort vermehren, wo die Bedingungen günstig sind ... Sie sind 'Agenten' des Lebens durch die Fakten, die sie schaffen. Manchmal gute, meistens aber schlechte.

In dieser pandemischen Phase ist das Virus dieses «Unverfügbarbarkeitsmonster» (Hartmut Rosa), das unsere Handlungsspielräume massiv einschränkt und unseren Alltag umklammert. Wir sind nun unfreier, misstrauischer geworden, weil wir Nähe vermeiden müssen. Das Bedrohliche liegt gespenstisch in der Luft, in den Aerosolen (+ Viren): Weder Lift noch U-Bahn fahren, auf der Straße das Umgehen anderer Leute, Hygiene-Rituale. Das Zoomen ist der neue 'Menschenzoo'...

Und immer wieder: Habe ich mich bereits angesteckt und weiß es nur noch nicht? Eine interessante Konvergenz: Ein schwerkranker Covid-Patient an der Sauerstoffmaschine sagt dasselbe wie George Floyd, ein Afroamerikaner, der 2020 von einem Polizisten erwürgt wurde: «Ich kann nicht atmen.»/ «I can't breathe.»

Das Zusammenleben auf der Erde ist ganz körperlich und konkret eine Frage des geteilten Atems. Es ist der Platz, wo wir Menschen uns mit allen anderen Lebewesen, auch der Atmosphäre und den Meeren treffen. Das Grundelement für Sein, die Luft, die wir ein- und ausatmen, bewirkt den Tausch von O2 und CO2 und das ist der Stoffwechselprozess, durch den alles Lebendige Teil aneinander hat und letztendlich voneinander abhängt.

Vor allem die big players der Welt haben gegenüber der Natur, das heißt gegenüber den anderen Wesen, wie wir Mitspieler im gemeinsamen Atemraum der Atmosphäre, ein rein ausbeuterisches Verhältnis. Die Natur ist ihnen lediglich Objekt und Ressource. Die menschliche Hybris hat ein 'virophiles' System mitproduziert: mehr Menschen, noch mehr Mobilität, weniger Freiraum für Tiere (Stichwort: Zoonose, das Überspringen eines Virus auf den Menschen), gigantische Agrarindustrien, Überproduktion von Lebensmitteln, Expansionen in die letzten unberührten Räume...

So verrückt es klingt, verwundert es doch nicht, dass ein international anerkannter Forscher wie Bruno Latour «ein Parlament der Dinge», also eine Praxis der fair geführten Beziehung aller lebendenden Subjekte (die nichtmenschliche Biosphäre) gefordert hat. Angesichts von Corona und eines relativen ökonomischen Stillstands (Ist das wirklich so? – Abgesehen von Tourismus und Fluggesellschaften machen doch alle weiter, auch weil uns ein komplettes Anhalten nicht weiterhilft.) plädiert er für «Unterbrechungs-Gesten» der Globalisierung, so wie wir uns Hygiene-Gesten antrainiert haben. Wir sollen uns die Freiheit nehmen, konkret zu artikulieren, was  nach der Corona-Phase weitergeführt, was besser nicht weitergeführt werden soll, was wir anders wollen... Mehr Netzwerke gründen...

Ich sitze in meiner Wohnung, sehe den Regierungsappell in der Zeitung, «Schau auf dich, bleib zu Hause.» Nach 20 Uhr darf ich ohne Begründung sowieso nicht mehr ausgehen. (Wird kaum kontrolliert.) Ein Gefühl von latenter Kasernierung stellt sich ein.

Natürlich nicht so dramatisch, dass ich denken könnte wie Heinrich Heine in seinem Pariser Exil 1833 «Die Freiheitsliebe ist eine Kerkerblume...» Die Seuche macht mir aber noch klarer, das alles auf der Verbundenheit mit der Welt und dem (schmerzlich vermissten) Wechselspiel von Beziehungen beruht. –  Die Zumutung des Realen lässt sich nicht ignorieren, wir können also nicht nach der Rousseau'schen Freiheitsdevise handeln, nicht tun zu müssen, was wir nicht wollen. Vielmehr sollen wir  uns im Kontext der Pandemie – aus höherer (vernünftiger) Einsicht und nicht aus bloßem Gehorsam – an den Erklärungshilfen der Wissenschaft und den Verordnungen der Politik orientieren. Schließlich wollen wir ja wieder etwas freier werden. Hoffen wir und halten wir uns offen für das Unwahrscheinliche, Erstaunliche! Es ist sehr gut möglich, dass Freiheit eher ein kollektives denn ein individuelles Gut ist. Individuen können nicht allein leben und haben dies auch nie getan.

Die Chimäre der völligen Freiheit wird weitergeistern. Hier spricht der Antiheld Victor aus S. Becketts Stück «Eleutheria» (griechisch: Freiheit) von 1947:

«Es ist schnell gesagt: Ich wollte immer frei sein. Ich weiß nicht warum. Ich weiß auch nicht, was es heißt, frei zu sein. Sie können mir alle Fingernägel ausreißen, ich könnte es Ihnen nicht sagen. Aber ganz ohne Wörter weiß ich, was es ist. Ich habe es immer ersehnt, ich ersehne es immer noch. Ich ersehne nur das.»

Karin Ruprechter-Prenn Frühjahr 2021