Der Klang des Unausgesprochen

Was spricht man lieber nicht aus, weil man befürchtet, durch den performativen Akt des Sprechens Unliebsames oder Unheil herbei zu führen? Dem Unausgesprochenem liegen zahlreiche Grammatiken und Politiken zugrunde, die u. a. kulturell und psychologisch in Verhaltensweisen eingeschrieben sein können. So ist Verdrängung ein Mechanismus der Ungelöstes oder Traumatisches ins Abseits stellt, um sich nicht mit einem Problem zu beschäftigen oder um Schmerz und Trauer nicht zuzulassen. Dennoch verschwinden damit weder Problem, Trauer oder Schmerz, vielmehr tauchen sie als Symptome immer wieder auf, wie wir seit Sigmund Freud wissen. Andererseits fungiert Verdrängung jedoch auch als Schutzmechanismus, um Realität erträglich zu machen. Die Balance zwischen Verdrängtem und Nichtverdrängtem scheint hier entscheidend, genauso wie die Frage, in welcher Form sich das Verdrängte immer wieder einstellt. Auf welche Art und Weise werden wir damit auf gesellschaftlicher und individueller Ebene konfrontiert? Eine der beliebtesten Verdrängungsbereiche und damit Leerstelle Nummer eins ist der Tod – die eigene Vergänglichkeit, an die man nicht erinnert werden möchte. Wie hängt nun Verdrängung mit Wahrnehmung und Sprache zusammen? Wenn ich etwas weder sehe noch höre kann es ja dennoch vorhanden sein. Verlässt die Bedeutung eines Wortes mit dem Akt des Aussprechens das Archiv des Verdrängten? Oder anders formuliert: Inwieweit trägt das Unausgesprochene zur Tabuisierung eines Bezeichneten bei und welche Rolle spielt dabei der Klang der Wörter?

Über den Gleichklang der Wörter

Im Japanischen führt die Klangverwandtschaft bzw. der Gleichklang der Kanjis 死 (shi = Tod) und 四 (shi = vier) dazu, dass die Aussprache beider Wörter aufgrund der Homophonie vermieden wird. Mit der Tabuisierung des Todes wird damit gleichzeitig die Zahl vier als unglücksbringendes Symbol so gut wie möglich aus dem Alltag eliminiert. Das schlechte Karma der Zahl vier leitet sich nicht vom Zeichen selbst, sondern von dessen Phonetik ab. Jedoch wird nicht nur der Wortklang vermieden, sondern auch das Zeichen selbst wird möglichst umgangen. So wird die Zahl vier beispielsweise bei Stockwerken, Türnummern, Tischnummern wichtigen Terminen etc. weggelassen. Die Bedeutung scheinbar unglücksbringender Zahlen steht in unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen mit dem Tod in Verbindung. Parallel dazu treten Mehrdeutigkeiten auf, Zahlen die sowohl für Glück als auch für Unglück stehen können. Zahlen werden hier also mit Bedeutungsinhalten aufgeladen: Religiöse, mystische, esoterische, irrationale Annahmen spiegeln sich in der Symbolik von Zahlen sowie im Verhältnis der Zahlen zueinander wider, wobei von einem angenommenen Einfluss auf die Menschen ausgegangen wird.

Zahlensymbolik kann als Orientierungs- oder Erklärungsmuster gesehen werden, um Ereignisse in einer Mythologie des Glücks oder Unglücks einzuordnen. In Italien steht die Zahl vier beispielsweise für «das Geheimnis von allem und nichts», was wiederum den Tod in seiner Unerklärbarkeit poetisch beschreibt.

Durch das Nichtaussprechen von shi, durch die Nichtverwendung des Kanjis und das Nichthören des Wortes vermeint man Tod und Unglück fern halten zu können. Um das größte aller Traumata zu verdrängen, blendet man dessen Wahrnehmung möglichst aus und erfindet Formen des Umschreibens. Tod wird ins Unbewusste abgedrängt oder in ihm zugeordneten religiösen Narrativen verpackt. Er ist die Leerstelle, die sich im Unausgesprochenen widerspiegelt. Die Leerstelle des Todes korrespondiert also mit der Leerstelle in der gesprochenen Sprache.

Happy Dying oder Live Forever

In welcher Form äußert sich das Verdrängte oder Nichtausgesprochene dennoch? Im Schrecken des Realen, wenn man beispielsweise mit Tod konfrontiert wird. Wenn das Sterben zum gesellschaftlichen Problem wird, tauchen neue Narrative und Marketing-Strategien als Lösungsvorschläge auf. Sterbeseminare, in denen man mit dem eigenen Tod konfrontiert wird, boomen. Das Nachdenken über das eigene Leben, die Endlichkeit und den Tod, sowie die körperliche Erfahrung des Probeliegens im Sarg sollen der Tabuisierung entgegen wirken, den Schrecken nehmen. Die Sterbeseminare sollen vor allem auch dabei helfen das eigene Begräbnis selbst zu organisieren. Es geht also auch um das zunehmend in Großstädten auftretende Phänomen, dass allein lebende Personen alleine sterben, sich keine Verwandten um die Person und Formalitäten kümmern. Die Verantwortung hat der Sterbende selbst zu tragen, um weder seine Nächsten noch die Gesellschaft zu belasten. Sozialpolitische Gegebenheiten und gesellschaftliche Entwicklungen führen hier also dazu, dass das kulturell Unausgesprochene im Marketingkontext nicht nur konfrontiert sondern beschönigt wird: So werden die Sterbeseminare unter dem Motto «happy dying» angeboten.

Der Endlichkeit versucht man aber auch über die Unsterblichkeit auf den Leib zu rücken, so wie das Biogenetik und Transhumanismus beispielsweise versprechen. Hier wird die Realisierung des Menschheitstraums von ewigem Leben bei gleichzeitigem Eintritt in das posthumane Zeitalter als Zukunftsmodell entworfen. Dabei ist die Überwindung des Todes einer der Zielpunkte, welcher im Kontext der Optimierungsmaschinerie verortet ist. Die Überwindung des Todes hat entweder den Verlust des Körpers zur Folge, soll über Hybridisierung, über Enhancement oder über genetische Modifikationen erreicht werden. Interessant ist hiermit die Frage, in welchem Zusammenhang die Tabuisierung des Todes aufgegeben wird, das Unausgesprochene Klangvolumen erhält, in welchem Kontext Tod und Sterben thematisiert werden. Gesellschaftspolitisch, naturwissenschaftlich, marketingstrategisch?

Live and Let Die *

Wenn Lebensbedingungen zum verfrühten Tod führen hat das mit gesellschaftspolitischen Strukturen zu tun. Ungeschriebene Gesetze kommen hier zum Tragen, wenn beispielsweise die Überstundenanzahl nicht geregelt ist, und Überstunden bis zum Umfallen als Ausdruck der Hingabe gesehen und verlangt werden. Lebenszeit wird hier beansprucht und verwertet, ökonomisch und kulturell gedeckt als Arbeitsethos. Der Wert einer Person wird über die Zeit der geleisteten Arbeitsstunden bemessen, die als Zeichen für dessen Loyalität und Engagement für die Firma gesehen wird. Wenn den Überstunden unter dem zunehmend größer werdenden Konkurrenzdruck keine Grenzen gesetzt werden, sind die Folgen tödlich.

Auf der Strecke bleiben alle Bereiche jenseits von Arbeit, weil keine Zeit mehr übrig ist, Gesundheit und Privatleben, gefolgt von psychischen und gesellschaftlichen Konsequenzen wie Depression und demografischen Entwicklungen. Karoshi benennt also eine bestimmte Todesursache als Folge eines kulturell verankerten gesellschaftspolitischen Problems. Politiken des Totschweigens beinhalten die Intention, dass alles so bleibt, wie es ist, nichts unkontrolliert verändert werden soll. Jeder Protest und Möglichkeitsraum bedarf jedoch einer Formulierung, die ausgesprochen werden muss, um gehört zu werden.

Der Lauf der Zeit

Tod gibt Lebenszeitraum vor, begrenzt und definiert somit die Lebenszeitspanne, Zeit generell. Im Moment des Bewusstseins von Endlichkeit stellt sich die Frage nach Lebenssinn, nach Lebensweise und der Bedeutung geliebter Menschen neu, gerade unter der Perspektive der Verletzbarkeit. Der Blick auf das eigene Leben und Sterben, deren Akzeptanz oder Nichtakzeptanz kann Reflexion und Veränderung bewirken, kann eigenen Handlungsspielraum sichtbar machen. Das Ende der Lebenszeit ist so unbekannt wie tabu, es wird nicht ausgesprochen, um es nicht herbeizureden, Totenstille. Narrative und Rituale begleiten mit dem Tod verbundene Vorstellungen vom Ende oder vom Neuanfang, – unterschiedlicher kultureller oder religiöser Sozialisation folgend – zwischen Wiedergeburt, Paradies und Hölle. In Relation zum Leben, zu positiven und negativen Taten, wird das Jenseits entweder zum Ort der Lösung aller Dinge oder zum Ort der potenzierten Schrecken und Bestrafungen stilisiert. Sowie ein Neuanfang ein Ende voraussetzt, bleibt nichts wie es ist, Entwicklungspotenzial in alle Richtungen ist stets vorhanden, auch wenn es unsichtbar ist oder unausgesprochen bleibt.

Sabine Winkler (2019)
* Song Titel von Guns n' Roses

DER TOD – und DAS LEBEN GEHT WEITER

«So schön wie hier kann's im Himmel gar nicht sein!»
(2009, Schlingensief, gest. 2010)

«Mit dem Tod habe ich nichts zu schaffen. Bin ich, ist er nicht. Ist er, bin ich nicht.» 

Der bekannte Spruch des Griechen Epikur, des Vertreters eines maßvollen Hedonismus, ist über 2000 Jahre alt, und weist trotz seiner materialistischen Radikalität auf ein Dilemma hin, das bis heute besteht: Er hat sich mit dem Tod befassen müssen, wissend, dass er nicht zu fassen ist. Völlig gleichgültig war er also auch ihm nicht. «Der Tod ist eine Leere, die plötzlich mitten im Leben eines Wesens aufbricht. Das Seiende stürzt auf einmal durch die Falltür des Nicht-Seins.»

(Vladimir Jankélévitch)

Die Endgültigkeit, mit der das geschieht, das Absolute schlechthin, damit können wir uns kaum abfinden. Und das Sprechen versagt: Wer über den Tod spricht, spricht über etwas, wovon er nichts weiß und wovon er nie etwas wissen wird. Wir können den Tod nicht denken. Er ist das Objekt einer Spekulation ohne Referenzsystem. (In dem Moment, wo wir ihn vielleicht erfassen und ein erstes Wort sagen könnten, wäre es auch schon das letzte Wort.) Im Leben heißt es «ja» , «nein» und sehr oft auch «jein» , aber der Tod kommt und sagt nur JA, er verhandelt nicht. Sonne und Tod kann man nicht fest in die Augen blicken, meinte La Rochefoucauld.

«Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen Lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten Im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns.»
(Rilke)

In der Tat – tritt das Unerhörte, dieser Bruch im Leben, ein, bleibt uns nur das Verstummen, es herrscht ein langer Augenblick der Stille, ein kurzes Heraustreten aus dem eigenen Getrieben-Sein angesichts der unerbittlichen Tatsache, die wir hinnehmen müssen. Auch als ein momento mori – Sei dir der eigenen Endlichkeit bewusst. All die kleinen Tode, die wir vielleicht schon gestorben sind – beim Abreisen, Abschiednehmen, Lieben... sind nichts gegen den «großen» Tod. Geschehen Katastrophen, die große Gemeinschaften betreffen, gibt es die öffentliche Schweigeminute. -  Schreien, Wehklagen, Stampfen, Tänze, Gesänge... die archaischen Formen, Trauerschmerz zu bewältigen, die uns heute zum Teil fremd sind, beeindrucken sogar besonders, blitzt doch in ihnen auch noch eine Auflehnung gegen den Tod auf (den es in Urzeiten nicht gab; es war ein böser Zauber am Werk). Man arbeitet sich bis zur Erschöpfung an der Trauer ab... Es erscheint einleuchtend, dass eine Situation der Sprachlosigkeit und Trauer zu Ritualen führt, denn sie helfen uns, das Aktuelle in eine andere, über uns hinausgehende Zeitdimension zu setzen: Unsere «Ahnengalerie» ist unüberblickbar lang und wir werden uns einreihen müssen... auch wenn wir dies nicht wahrhaben KÖNNEN.

«Im Grunde genommen glaubt niemand an den eigenen Tod.» (Sigmund Freud) Und das hat sogar eine gewisse listige Logik: Jeder Mensch ist für sich selbst unsterblich; er weiß zwar, dass er sterben muss, er kann jedoch nie wissen, dass er tot ist...

Diese «metaempirische Tragödie» (V.J) ins Komische gewendet bei Woody Allen: «Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Ich möchte bloß nicht dabei sein, wenn es passiert.»

Wir wissen also streng genommen nichts. Wir können uns Vorstellungen machen und diese gibt es in Fülle: Literarische Entwürfe wie Totengespräche hinter der Friedhofsmauer, Grabreden aus der Gruft heraus, die aber meist die verlassene Welt thematisieren, oft schonungslose Abrechnungen sind; religiöse Erzählungen von Hölle und Paradies oder von Wiedergeburt denken das Jenseits bzw. die Wiederkehr als Zukunft, ja als Ewigkeit (die genauso unbegreiflich ist wie der Tod, da wir alles im Leben als zeitlich begrenzt erfahren). Sie bieten gleichsam ein Arrangement mit dem Tod an, das uns trösten kann. Unsere Alltagssprache ist voller Tricks und Bilder, die Kontinuität suggerieren, um den Abgrund zwischen Diesseits und Jenseits zu überbrücken. Ja, viele von uns brauchen Trost und geben sich himmlischen Hoffnungen hin! Das Bild vom «Abend/Herbst» des Lebens illustriert, wie wenig wir wahrhaben wollen, dass nach dem Alter kein neuer Frühling kommt, sondern ein Abbruch des Lebens – ein Ereignis, auf das wir nicht wirklich vorbereitet sein können. Abgesehen von Verabschiedungen und Klärungen, die Nachwelt betreffend - in was sollen wir uns einüben? Besser ist es, leben zu lernen.

Wir können den Tod nicht denken, wir entfalten jedoch Perspektiven auf ihn: In der 3. Person sind es z.B. Nachrufe oder Todesanzeigen. Ein gewisser Er oder Sie ist gestorben. Wir registrieren diese Annoncen eher unpersönlich, aber umso interessierter, je stärker wir einen Bezug herstellen können. Meine Mutter liest, einer Statistikerin gleich, alle Todesmeldungen ihrer Regionalzeitung und fokussiert besonders auf das Alter der Verstorbenen – mit sofortiger Wirkung der Dankbarkeit: Sie ist noch am Leben...

Eine ungleich schwierigere Perspektive auf den Tod besteht in der 2. Person, einem DU gegenüber, denn das Du soll niemals sterben! «Die Abwesenheit der geliebten Menschen, um die man trauert, ist ebenso konkret, wie es ihre Anwesenheit einmal war.» (John Berger) Alle gemeinsamen Möglichkeiten hören auf, Möglichkeiten zu sein. Wir können keine Fragen mehr stellen, ein kleiner Kosmos ist verschwunden; wo Fülle war, ist ein Fehlen, eine betäubende Leere... Wir lieben weiterhin – in der Erinnerung, denn die Unsterblichkeit der Liebe ist vielleicht der einzige Weg, um das Trennende des Todes zu relativieren. Und: Was gewesen ist, kann nicht NICHT gewesen sein. - Der japanische Alltag ist vielleicht selbstverständlicher vom Umgang mit den Toten durchdrungen als ein westeuropäischer: Oft finden sich dort ein Hausaltar, Urnen oder wenigstens Fotos mit Beigaben, den Lieblingsdingen der Verstorbenen wie Sake, Teeschalen, Mandarinen usw. 

Der Tod aus der Ich-Perspektive, in der 1. Person: Hoffentlich fühlen wir uns nicht zu einsam, wenn es soweit ist, da jeder für sich allein diesen Schritt vollziehen muss... Die Angst der Ängste, die diffuse letzte Angst heißt Tod. Diese Angst ist die am weitesten entfernte, sie befindet sich am Grund unseres Daseins. Deshalb lässt sich der Tod auch nicht wirklich erfolgreich enttabuisieren... unsere Vitalität resultiert in seiner Verdrängung.

Das stärkste Beispiel eines Todeshassers, eines buchstäblichen Tod-Feindes, ist vielleicht Elias Canetti. Der Tod, «ein Skandal», den er, wenn es ginge, «abschaffen» würde. Zeit seines Lebens wütete in ihm ein fast heiliger Zorn, gepaart mit kindlichem Trotz, dem er in vielen 1000 Seiten seines Schreibprojekts «Das Buch gegen den Tod» Ausdruck verlieh, so als könnte er den verhassten «Zerstörer» sprachlich bannen und vernichten... Wer geistreich über den Tod schriebe, der verdiene ihn...

«Ein Eclat,...eine Herabsetzung des menschlichen Lebens...» Auch die Dichterin Mayröcker (*1924) wehrt sich vehement gegen das Faktum des Todes: «... ich hab' noch so viel zu tun... Wenn ich denke, was für eine Lebenszeit andere Lebewesen haben!» Diametral entgegengesetzt zu diesem Ewigkeitswunsch eröffnet sich für ihre Schreibkollegin Ilse Aichinger (1921-2016) durch den Tod ein Raum zum Verschwinden; am liebsten hätte sie nie existiert. Anlässlich ihres 75. Geburtstags: «Ich habe es immer als Zumutung empfunden, dass man nicht gefragt wird, ob man auf die Welt kommen will. Ich hätte es bestimmt abgelehnt.» (Ihren komplizierten biografischen Kontext, der ihren radikalen en Pessimismus etwas verständlicher macht, muss ich hier weglassen.)

Der Tod ist das «Paradox einer sinnvollen Sinnlosigkeit» , ein «Organon und ein Obstaculum» (V.J.), also eine Art Werkzeug oder Mittel wie ein Dynamo - und ein Hindernis, da er sich uns in die Quere stellt, während wir noch so viele Pläne haben! Der Tod ist die Voraussetzung für individuelle Sinngebung, für emphatische Lebensbejahung. Diese Fragilität rückt erst den unendlichen Wert des Lebens ins Licht, der während der eigenen Lebenszeit oft zu wenig bemerkt bleibt... Der Tod mag uns geheimnisvoll erscheinen, was aber daran liegen kann, dass die Kostbarkeit des Lebens, der durch ihn offenbar wird, nicht erkannt wird. Der eigentliche Zauber bleibt für uns doch das oft rätselhafte

Dasein, nicht der Tod als Naturgesetz.

Der Kulturphilosoph Georg Simmel spricht von der «formgebenden Bedeutung des Todes» : Er begrenzt, d.h. formt unser Leben nicht erst dann, wenn das Ende da ist, sondern er grundiert alle Lebensinhalte. Das heißt, Qualität und Form eines jeden gelebten Augenblicks wären anders, wenn sich das Dasein über diese immanente Grenze hinaus ausdehnen könnte – in ein unendliches Kontinuum (der Langeweile??). Unsere Aktivitäten bestehen laut Simmel aus einer Einheit von «Lebenseroberung und Todesflucht». Wir stürzen uns ins Leben, vom Tod abgewandt, für unsere Arbeit, den Genuss, die Ruhe, alle Dinge, die mehr oder weniger wichtig sein mögen. Dabei vollzieht sich eine doppelte Bewegung: Das Leben, das wir verbrauchen, nähert uns dem Tod, gleichzeitig verbrauchen wir es, ihn zu fliehen. - Das «Ziel des Lebens» (im Sinn der Finalität) ist der Tod. (Freud)

«Das Leben fordert von sich aus den Tod als seinen Gegensatz, als das «Andere».» (G.S.) Die Synthese aus den Gegenpolen könnte darin bestehen, dass manche unserer gemeinsam geschaffenen Werte, Ideen und Arbeiten weiter getragen werden, weiter entwickelt werden, denn es ist so: Das Leben geht weiter, auch wenn wir nicht mehr sind - außer in heutigen letzten Ruhestätten wie «Halls of Memory» des WWW...

Also: AUF DAS LEBEN!

Auf das «STIRB UND WERDE.» (Goethe)

Karin Ruprechter-Prenn (2019)

Literatur:

Vladimir Jankélévitch, Der Tod. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005
Georg Simmel, Metaphysik des Todes. In: LOGOS,
Int. Zeitschrift f. Philosophie der Kultur, hrsg. V. Georg Mehlis,
Band I, 1910/II, 1. Heft
Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod. München: Hanser 2014
Julia Kospach: Letzte Dinge. I. Aichinger und F. Mayröcker –
zwei Gespräche über den Tod –Assemblagen von Spoerri.
Wien: Mandelbaum 2008
Rainer Maria Rilke, Das Buch der Bilder. Erstdruck:
Leipzig (Insel) 1902. Frankfurt a. M.: Insel 1957
Christoph Schlingensief: So schön wie hier,
kann's im Himmel gar nicht sein.
Tagebuch eines Krebskranken. Frankfurt a. M.: kiwi 2009

 

四 shi

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